Brüder und Schwestern

Der linientreue Familienvater Willy Werchow ist Direktor der großen SED-eigenen Druckerei "Aufbruch" im fiktiven thüringischen Gerberstedt. Der Vater der drei ehelichen Kinder Britta, Erik und Matti hat Differenzen mit seiner Frau, der Sparkassen-Angestellten Brüder und Schwestern Ruth, die seit einer Vergewaltigung durch die Russen traumatisiert ist und sich ihm seit Jahren sexuell entzieht. Werchow hält sich daher eine Geliebte in Berlin, wo er sich einmal in der Woche dienstlich aufhält. Mit dieser hat er auch ein uneheliches Kind, von dem keiner wissen darf. Die Geheimhaltung seiner außerehelichen Beziehung bereitet ihm aber mehr und mehr Schwierigkeiten, auch die Leitung der Druckerei wird immer problematischer. Die sozialistische Mangelwirtschaft und das Einhalten der Vorgaben der Partei machen ihm schwer zu schaffen und "Heuchelei, Phrasendrescherei und Schurigelei" frustrieren ihn ungeheuer. Er muss mehr und mehr Kompromisse eingehen, gerät aber irgendwann infolge eines angedrohten Streiks seiner Druckerei-Mitarbeiter schwer in die Bredouille und wird als Direktor abgesetzt. Auch privat läuft es für das Familienoberhaupt nicht so, wie erhofft. Tochter Britta schreibt ein Gedicht des gerade ausgebürgerten Wolf Biermann ab und hängt es an der Klassenzimmertüre auf. Sie fliegt von der Schule, nachdem ihr linientreuer Bruder Erik sie, um seine eigene Karriere nicht zu gefährden, an die Stasi verrät, und geht zum Leidwesen der Familie als Akrobatin zum Zirkus. Opportunist Erik, der ältere Sohn, verweigert zwar später die Zusammenarbeit mit der Stasi, was seiner beruflichen Karriere nicht gut bekommt, wird aber immerhin Werber für die Marke "DDR" im befreundeten Ausland. Der aufmüpfige Idealist Matti aber, aus dessen angestrebter Karriere auch nichts wird, da er sich dem System nicht beugen will, überwirft sich mit dem Bruder wegen des Verrats der eigenen Schwester und redet nicht mehr mit ihm. Er steuert schließlich ein Motorgüterschiff durch die Binnengewässer des Landes und schreibt nebenbei einen Roman, den er in der DDR nicht veröffentlichen darf, der aber im Westen erscheint. Die Familie droht auseinanderzubrechen und als Werchows Frau von der Geliebten in Berlin und dem unehelichen Kind erfährt und Selbstmord begeht, ist die Katastrophe da. Man rauft sich aber wieder zusammen und verträgt sich einigermaßen, bis die Familiengeschichte 1989 zur Zeit der friedlichen Revolution, abrupt endet - eine Fortsetzung ist angekündigt. - Der Autor ("Der blaue Kristall", "Im Schatten der Diva"), als in Ostberlin geborener Journalist ein exzellenter Kenner der politischen Verhältnisse in der DDR, liefert zwar einen farbigen Einblick in die Denk- und Lebensweise der Bürger und deren Unfreiheit in der ehemaligen DDR, sowie eine treffende Darstellung der dortigen wirtschaftlichen und politischen Wirklichkeit, aber insgesamt kann der voluminöse 700-Seiten-Wälzer nicht überzeugen. Die Lebenslaufbeschreibungen der Familienmitglieder stecken voller Klischees, sind zum Teil unerträglich ausufernd und die mitunter recht ungewöhnliche altmodische Sprache ist nur schwer gewöhnbar. Das Buch kann daher allenfalls zur Bestandsergänzung von DDR-Literatur in großen Büchereien empfohlen werden.

Günther Freund

Günther Freund

rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Birk Meinhardt
Hanser (2013)

699 S.
fest geb.

MedienNr.: 376923
ISBN 978-3-446-24119-0
9783446241190
ca. 24,90 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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