Teil 2

Qual(ität) der Wahl

Wie Sie Bücher für Ihren Literaturkreis auswählen

von Susanne Emschermann

Haben Sie inzwischen einen Literaturkreis in Ihrer Gemeinde gegründet? Wenn nicht, möchte ich Ihnen heute noch einmal Lust und Mut machen. Die spannendste Frage ist immer: Was wollen Sie lesen?

Am besten funktioniert es mit Büchern, von denen Sie selber überzeugt sind. Ausnahmen inbegriffen. Ich hatte vor Jahren auf einer Fortbildung zum ersten Mal von der Schriftstellerin Lily Brett gehört. In kürzester Zeit verschlang ich alle lieferbaren Bücher von ihr und brannte darauf, diese Begeisterung mit meinen Lesefreundinnen zu teilen. Wir lasen den Titel „Chuzpe“, eine witzige Geschichte über einen Vater-Tochter-Konflikt, über ein Restaurant, in dem es Fleischbällchen gibt, über amerikanische Neurosen, über die Liebe im Alter… Meine drei Freundinnen reagierten fassungslos. Was ich mir dabei gedacht hätte? Das solle Literatur sein? Das sei von jedem etwas und nichts Richtiges, und witzig sei das kein bisschen. Ich musste erst einmal schlucken. Der Abend endete in einer aufregenden Diskussion über die Frage „Was ist komisch?“

Ich möchte Ihnen zeigen, warum dieser Abend kein Misserfolg war, und dass Sie bei der Buchauswahl tatsächlich unbegrenzte Möglichkeiten haben. Wenn Sie ein Krimifan sind, machen Sie einen Kreis für Krimileser auf. Wenn Sie lieber Liebesromane lesen, spezialisieren Sie sich auf Lektüre mit Herz. Vielleicht möchten Sie Romane aus einem speziellen Land besprechen, da bietet sich jedes Jahr das Gastland der Frankfurter Buchmesse an. Ich hinke immer ein Jahr hinterher, weil ich warte bis die neuen Titel auch im Taschenbuch erschienen sind. Taschenbuchausgaben sind preisgünstiger – nicht jeder ist in der Lage, regelmäßig Hardcover zu kaufen. Vielleicht können Sie die Titel auch für ihre Bücherei anschaffen, wenn der Etat es hergibt, möglicherweise auch zwei Ausgaben, die Sie dann mit einem Aufkleber, etwa „Lesekreis“ versehen können.


Fantasie ohne Grenzen

Vor zehn Jahren habe ich mit Büchern begonnen, die mir in meinem Leseleben besonders gefallen haben, also sozusagen meine Lieblingsbücher. Das waren „Das verborgene Wort“ von Ulla Hahn, „Die Straße“ von Cormac McCarthy, „Empörung“ von Philip Roth, „Krabat“ von Ottfried Preußler, „Wer die Nachtigall stört“ von Harper Lee und etliche andere. Nachdem wir diese Romane alle besprochen hatten, habe ich mich auf neu erschiene Taschenbücher gestürzt. Hier interessiert mich vor allem Belletristik, aber vielleicht möchten Sie mit Ihrem Kreis lieber Sachbücher, etwa Biografien besprechen. Meist kenne ich die Titel schon, weil ich in den Vorjahren die Rezensionen online gelesen oder in der Bibliothek, bzw. in einer Buchhandlung darin geschmökert habe.

Auch ein Lesekreis für junge Eltern bietet sich an. Vielleicht können Sie gleich ein paar Jugendliche aus der Gemeinde als Babysitter dazu bitten. Denkbar sind Lesegruppen für Jungen und/oder Mädchen, für Jugendliche, für Paare, für Freundinnen… Ihrer Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Seit zwei Jahren suche ich die Bücher für ein Halbjahr zu einem bestimmten Thema aus. Wir hatten schon russische, isländische und brasilianische Autoren. 2013 war  „Liebe bei zeitgenössischen europäischen Autoren“ unser Schwerpunktthema. Im Moment befassen wir uns mit Kafka, Prag und dem Glück. Keine Angst vor Kafka! Wir nähern uns dem Autor mit zwei aktuellen Romanen über seine Person, lesen von seiner Heimatstadt Prag und ihren Mythen und beschäftigen uns zum Abschluss mit seiner bekanntesten Erzählung „Die Verwandlung“. Als Zusatzlektüre empfehle ich noch die Biografie „Auf der Schwelle zum Glück“ von Alois Prinz.


Verwandt mal anders

Sehr schön sind auch sogenannte verwandte Bücher. So bildet Turgenjews Novelle „Erste Liebe“ das Motto für das Buch „Salzwasser“ des Amerikaners Charles Simmons. Zwischen den Büchern liegen 138 Jahre. Beide Male verlieben sich der jugendliche Protagonist und sein Vater in dieselbe junge Frau. Der Neuseeländer Lloyd Jones nimmt sich eine Figur aus „Große Erwartungen“ von Charles Dickens vor, „Mister Pip“. Zudem ist sein Buch eine Hommage an die Kraft der Literatur.

Wer, also, soll die Bücher aussuchen? Ich habe seit 15 Jahren einen kleinen privaten Lesekreis. Wir sind fünf Frauen und treffen uns einmal im Monat. Wer „dran“ ist, packt am Ende des geselligen Abends nach dem dritten Glas Wein seine Tasche aus und stellt drei bis höchstens vier Titel vor. Die anderen vier dürfen abstimmen. Bei einer Pattsituation entscheidet die Vorschlagende, welches Buch wir beim nächsten Mal besprechen. Je größer eine Gruppe ist, desto schwieriger ist die Entscheidung und desto mehr Diskussionen wird es geben. In meinen Kreisen für das katholische Bildungswerk schlage ich die Bücher vor und nehme selten einmal einen Besprechungswunsch an. Warum ich das so autoritär handhabe? Bei einer proliko Fortbildung zur Leitung von Literaturgesprächskreisen im Kölner Maternushaus wurden wir auf die Problematik hingewiesen. Wer sein Lieblingsbuch vorschlägt, eins, an dem sein Herz hängt, muss aushalten können, dass es von der Gruppe verrissen wird. Das kann nicht jeder. Ich habe das in meinen Kreisen thematisiert, und die Teilnehmer sind zufrieden mit meiner Buchauswahl. Sie müssen selber wissen, wie Sie Ihre Bücher auswählen wollen.


Nichts davon ist falsch

Natürlich habe ich auch schon „Prügel“ für ein Buch einstecken müssen, aber nie in allen Kursen gleichzeitig. Ich bespreche jeden Monat einen Titel an vier unterschiedlichen Terminen. Vielleicht denken Sie jetzt, dass das langweilig ist. Keinesfalls. Mitunter habe ich hinterher den Eindruck, wir hätten über völlig andere Bücher gesprochen. Ich kann nie vorhersagen, wie ein Buch ankommen wird. Das ist nach vielen Jahren und noch mehr Büchern noch immer ungeheuer spannend. So wurde die „Großmutter“ von Bozená Nemcova in einem Kurs als langweilig und antiquiert beurteilt, in einem als lyrisches Märchen und in einem dritten als Beispiel für den Halt, den der Glaube geben kann. Nichts davon ist falsch, für alles lassen sich Belege finden. Je kontroverser ein Buch diskutiert wird, desto unterhaltsamer ist der Abend. Das lässt sich nicht vorausplanen, wie in der oben genannten Diskussion über Komik.

Geben Sie Ihren Teilnehmer/innen dieses Gefühl: jede Meinung ist wichtig, es gibt keine falsche Sichtweise. Wir können uns die Köpfe heiß reden und respektieren doch die Meinung der anderen Teilnehmer. Manchmal müssen Sie sicher die Wogen glätten, dann gehen alle zum Schluss bereichert nach Hause und manch ein Kritiker sagt: „Wenn ich ehrlich bin, hatte mir das Buch gar nicht besonders gefallen. Nachdem ich jetzt so viele unterschiedliche Aspekte gehört habe, werde ich es noch einmal lesen. Da steckt ja viel mehr drin, als ich gedacht habe.“


Jedes Buch findet seine Leser

Ein kleiner Nachtrag zu Lily Brett. Eine meiner Literaturfreundinnen konnte damals bei der Besprechung von „Chuzpe“ nicht dabei sein und rief mich am nächsten Tag an. Sie wolle mir doch sagen, wie gut ihr das Buch gefallen hätte. Sie könne sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so intelligent unterhalten worden wäre. Auf der Couch liegend, hätte sie schallend gelacht.

Jedes Buch findet seine Leser. Viel Spaß bei Ihrer persönlichen Suche nach Titeln für Ihren Lesekreis.

Susanne Emschermann ist freie Autorin und Büchereileiterin der KÖB St. Dionysius in Niederkassel am Rhein.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der BiblioTheke Redaktion. Ersterscheinung in BiblioTheke 1.15

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