Filmtipp

Raum

Außergewöhnlich dicht inszeniertes Drama mit einfallsreicher Kameraführung

Dieser Kosmos umfasst kaum mehr als zehn Quadratmeter. Die Wände sind dick und schallisoliert, die Tür aus Stahl. Den einzigen Blick in die Außenwelt erlaubt ein Oberlicht. Trotz der Enge fühlt sich der fünfjährige Jack jedoch nicht als Gefangener in dem Zimmer, das er mit seiner Mutter bewohnt. Sein Alltag ist vielseitig: Fernsehen, Spielen, Sport, Baden, Essen, Zuhören, wenn seine Mutter ihm Geschichten vorliest. Jack vermisst nichts, denn er kennt nichts anderes als dieses begrenzte Zuhause, das er einfach „Raum“ nennt. Die dort vorhandenen Gegenstände hält er für einzigartig.

Das Leben dieses Kindes, wie es in den ersten zehn Minuten von Lenny Abrahamsons Film ausgebreitet wird, ist bei allen Beschränkungen abwechslungsreich und abenteuerlich: wie ein Spiel, das auch gruselige, aus Sicht des Jungen aber harmlose Abschnitte beinhaltet. Etwa die Nächte, wenn ihm sein Bett im Schrank zurechtgemacht wird, und er durch die Spalten im Holz die Ankunft des undeutlich erkennbaren Mannes beobachtet, den er und seine Mutter nur „Old Nick“ nennen: Das Piepen, wenn dieser den Türcode eingibt, die wenigen, leise gewechselten Worte, bevor für lange Zeit nur noch das heftige Quietschen des Bettes zu hören ist.

Die Kamera von Danny Cohen bleibt in dieser Szene wie so oft in diesem Film sehr eng bei Jack und macht sich so seine Perspektive zu Eigen. Der kindlich-unwissende Blick rückt die Geschehnisse in die Distanz und nimmt ihnen damit so viel von ihrem Horror, um sie als Zuschauer gerade so ertragen zu können. Das ganze Ausmaß der Leidensgeschichte der jungen Joy Newsome lässt sich zunächst nur durch das vielschichtige Spiel der grandiosen Mutter-Darstellerin Brie Larson erahnen, in dem permanent winzige Momente des Schmerzes durchscheinen.

Die Hintergründe werden nach einem gewalttätigen Zwischenfall bald nachgeliefert: Sieben Jahre zuvor ist Joy entführt worden und lebt seitdem eingesperrt im abgelegenen Schuppen eines Unbekannten; als Folge der nahezu allabendlichen Vergewaltigungen wurde Jack gezeugt und in der Gefangenschaft geboren. „Ich will eine andere Geschichte!“, beschwert sich der Junge, als Joy ihm die Illusion über seine behütete Welt nehmen will. Doch die Mutter bleibt hart: Es gibt Anzeichen, dass ihre Lage bald noch bedrohlicher werden könnte, und auf eine Flucht kann sie nur hoffen, wenn ihr Sohn dabei den Hauptpart übernimmt.

„Raum“ knüpft an reale Vorbilder wie den österreichischen Fall Fritzl an, doch das Drehbuch der irisch- kanadischen Schriftstellerin Emma Donoghue blendet wie schon in ihrer Romanvorlage die Figur des Täters weitgehend aus. „Old Nick“ bleibt durchweg schemenhaft und ominös, auch wenn der Film es vermeidet, ihn als das „reine Böse“ zu inszenieren. In den Fokus rückt damit zwangsläufig die intime Beziehung zwischen Mutter und Sohn, die von dem sensiblen Zusammenspiel zwischen Brie Larson und dem außergewöhnlichen Kinderdarsteller Jacob Tremblay lebt und vor allem beim Planen und Ausführen der Flucht eine enorme Spannung entfaltet.

Die Inszenierung des hermetischen Schauplatzes, an dem fast der ganze erste Teil des Films spielt, trägt das ihre zur Wirkung bei: Klug gewählte, sich nicht wiederholende Kameraeinstellungen, die zwischen ruhiger Beobachtung und Detailaufnahmen wechseln, und das überraschende Cinemascope-Format machen den Schutzraum erkennbar, den sich die Eingesperrten in ihrem Gefängnis zum Überleben geschaffen haben.

Wenn sich mit dem Vordringen in die Außenwelt im zweiten Teil der Blickwinkel von Jack (und damit auchder des Films) weitet, gelingt es der Inszenierung, auch den Zuschauer über die im Grunde völlig alltäglichenBilder einer amerikanischen Kleinstadt staunen zu lassen. Noch immer extrem nah an der jungen Hauptfigur, dringt die Dichte der Eindrücke ungefiltert ein und lässt den Mikrokosmos des Schuppen-Raums imVergleich dazu beruhigend überschaubar wirken. Die Welt außerhalb ist alles andere als perfekt und hält auch ihre eigenen Herausforderungen bereit.

Das ist die Botschaft des Films, dem große Anerkennung dafür gebührt, sich nie in die erzählerische Komfortzone zurückzuziehen. Zwar zielt er wesentlich mehr auf Figuren mit Identifikationscharakter als etwa ein sperriges Entführungs- und Missbrauchsdrama wie Markus Schleinzers „Michael“ (fd 40 874), doch Illusionen über einfache Lösungen verbreitet auch „Raum“ nicht. Wenn Mutter und Sohn eine Chance auf ein normales Leben haben, so durch die Kraft ihrer gegenseitigen Liebe. Darauf zu hoffen, lädt der Film jedoch ausdrücklich ein.

Marius Nobach
Filmdienst
17. März 2016

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