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Mercedes Lauenstein

Journalistin und Schriftstellerin 


„Nachts schlafe ich nicht. Ich laufe durch die Straßen und gucke durch die erleuchteten Fenster in das Leben der anderen hinein.“ So beginnt der Erzählband „nachts“, ein großartiges Debüt der Münchener Autorin Mercedes Lauenstein. „Nachts“, das sind 25 Geschichten über 25 Begegnungen. So echt geschrieben, dass beim Lesen unweigerlich die Frage nach Wirklichkeit und Fiktion aufkommt.

Eine junge Frau ohne Namen, streift durch die nächtliche Großstadt. Sie klingelt immer am letzten erleuchteten Fenster einer Straße und lernt Leonie, Egon und viele andere kennen. Menschen, die hinter den Glasscheiben ihre Schlaflosigkeit teilen.

Auch Mercedes Lauenstein ist nachts unterwegs. Nicht, weil sie nicht schlafen kann, sondern weil es für sie ein Stück Freiheit bedeutet, sich an keinen geregelten Tages- oder Nachtablauf halten zu müssen. „Ich kann nicht frei genug sein“, sagt die 27-Jährige mit dem klangvollen Namen und der unkonventionellen Persönlichkeit. Wenn Mercedes Lauenstein nachts nicht schläft oder spazieren geht, dann schreibt sie. „Ich mag die Atmosphäre, wenn endlich mal alles zur Ruhe kommt und niemand anruft. Es ist schwarz am Himmel und still in den Straßen und nichts lenkt mich ab.“ In diesen Stunden ist sie mit ihrer Berufung versöhnt.

Das ist nicht immer so, denn Schreiben bedeutet für Mercedes auch Krise. Das Schöpferische vergleicht sie mit einem Segeltörn im Sturm, mal oben auf der Welle, mal kurz vor dem Kentern. „Wie viele Schriftsteller liege ich in einem krassen Clinch mit dem was ich tue, frage mich ständig nach dem Sinn und ob die Welt meine Stimme auch noch braucht.“ Und doch kann sie sich nichts Anderes vorstellen. Mercedes Lauenstein als Ärztin oder Anwältin geht nicht. Zu eng, zu getaktet. „Ich werde wahrscheinlich immer schreiben.“

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Zwischen Ostsee und Alpenvorland


Schon Mercedes‘ Kindheit verläuft eher ungewöhnlich. 1988 wird sie in Kappeln an der Schlei, einer kleinen Stadt in der Nähe von Flensburg, geboren. Als sie zehn Jahre alt ist, trennen sich die Eltern und Mercedes zieht mit ihrer Mutter und vier Geschwistern nach München. Eine bewegte Zeit: „Es war damals ziemlich chaotisch und ich habe viel mit meiner Mutter gestritten. Irgendwann bin ich wieder nach Schleswig-Holstein, zurück zu meinem Vater.“ Ihre Jugend verbringt Mercedes pendelnd zwischen beiden Welten, die einiges mehr trennt, als die Einwohnerzahl oder die 920 Kilometer, die dazwischenliegen.

Im Norden der Vater, ein begabter und leidenschaftlicher Hobbymusiker und -maler, der es auch im Hauptberuf hätte schaffen können, wäre er nicht sicherheitshalber Zahnarzt geworden. In der bayerischen Hauptstadt die Mutter, die auch malt und Bildhauerarbeiten macht. Künstlerisch, ein bisschen durchgedreht, schwierig. Sie gibt Mercedes das Freigeistige mit auf den Weg. „Meine Mutter liebt Menschen, die machen, was sie wollen. Das geht bei ihr schon ein bisschen ins Weltfremde. Uns Kindern hat sie immer gesagt, mach nur worauf du Lust hast.“

Und Mercedes Lauenstein macht, worauf sie Lust hat. Nach dem Abitur zieht es sie ins Ausland. Unterwegs schreibt sie einen Reiseblog, der bei Freunden und Bekannten sehr beliebt wird. „Damals kam ich überhaupt erst auf die Idee, dass ich so etwas beruflich machen könnte. Eigentlich hatte ich eher an Kunst oder Design gedacht.“ Das Schreiben liegt ihr und macht ihr Spaß. Der klassische Journalismus jedoch reizt sie nicht. „Ich finde es anstrengend, wenn ich mich immer an die Wahrheit halten muss und das Ende des Satzes nicht mal ein bisschen umschreiben darf.“

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Der erste Job


Für eine Karriere als Schriftstellerin empfindet sie sich mit 19 Jahren zu alt. „Heute weiß ich, dass das Quatsch ist, aber damals dachte ich, alle ernstzunehmenden Schriftsteller haben mit 14 angefangen.“ Mercedes Lauenstein entscheidet sich schließlich für ein Praktikum beim Jugend-Online-Magazin „Jetzt.de“ der Süddeutschen Zeitung. „Jetzt.de, das steht für literarischen Journalismus mit Raum für Geschichten und freien Textformen“, erklärt sie ihre Entscheidung. Bereits nach zwei Monaten Praktikum wird Mercedes Lauenstein Pauschalistin in der Redaktion: „Mein erster richtiger Job.“

Während ihr Umfeld damit hadert, dass sie nicht studieren will, ist genau das für Mercedes ein guter Grund, sich gegen die Hochschule zu entscheiden. „Ich war trotzig, weil alle immer selbstverständlich davon ausgehen, dass man nach dem Abitur studiert.“ Erst zwei Jahre später, als sich alle damit abgefunden haben, schreibt sie sich für Europäische Ethnologie und Kunstgeschichte ein. „Ich habe das für mich gemacht, ohne jeden Druck, einfach, weil ich Spaß daran hatte.“ Vor allem die Ethnologie liegt ihr. „Menschen in ihrem Alltag beobachten, ihr Verhalten analysieren… das mache ich auch für meine Texte.“ 2015 hat sie ihren Bachelor in der Tasche.

Parallel zum Studium schreibt Mercedes weiter für „Jetzt.de“. Dort lernt sie auch ihren Freund kennen, einen Fotografen. Zwei Tage pro Woche arbeitet sie in der Redaktion, fünf Tage hat sie frei und Zeit für andere Dinge. Ein Rhythmus, der ihr gut gefällt. „Die Redaktion gab meinem Leben eine Struktur und wenn ich ins SZ-Hochhaus fuhr, hatte ich ein seriöses Gefühl.“ Aber auch die Arbeit in der „Jetzt.de“-Redaktion verändert sich im Internetzeitalter. „Es ging immer mehr um Social Media und immer weniger um das Schreiben.“

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Schreiben, malen, frei sein


Weil ihr das redaktionelle Arbeiten nicht mehr gefällt, gibt Mercedes die Stelle auf und schreibt nur noch auf Honorarbasis. „Seit ich nicht mehr in die Redaktion gehen muss, fühle mich so frei wie nie zuvor“, schwärmt sie.  Gemeinsam mit ihren Freund mietet sie ein Büro und fühlt sich erwachsen, wenn sie dort am Schreibtisch sitzt. Wenn die Krise kommt und sie ein Wellental erreicht, setzt sie sich lieber mit dem Laptop in ihr Bett. Dort fühlt sie sich aufgehoben und unantastbar. „Eher würde ich putzen gehen, als wieder in einer Redaktion zu arbeiten. Dann lieber leben wie ein Künstler.“

Das Künstlerische, es ist ihr nah. Im Nebenraum ihres Büros bewahrt sie Pinsel und Paletten auf, wie früher zu Hause, wo sie das Malzimmer ihres Vaters nutzte. Für Mercedes ist es ein noch ungelebter Traum, das Malen zum Beruf zu machen. „Vielleicht muss ich mich besser verkaufen und auf meine Bücher schreiben „Mercedes Lauenstein, Schriftstellerin und Malerin“, sinniert sie schmunzelnd. Diese Autorenzeile würde es ziemlich genau treffen. Denn auch wenn sie noch nicht öffentlich mit dem Pinsel malt, so tut sie es doch mit Worten.

Und das klingt in „nachts“ so: „Sein dunkelroter Pulli hat einen V-Ausschnitt, darunter ist ein blauweiß gestreiftes T-Shirt zu sehen. (…) Er steht auf einem buntgewebten Teppich, aus der Wohnung dringt der Geruch von Sauerteig und warmem Kerzenwachs. Nicht einmal einen halben Meter hinter ihm führt eine hölzerne Treppe nach oben, sie glänzt wie Honig, so warm strahlt das Licht aus dem oberen Raum auf sie herunter.“ Von Stillleben, die sie in ihrem Buch malt, schreibt die „Zeit“. Von einem Buch, wie eine Ausstellung. An manchen Geschichten gehe man vorbei, um später nochmal wieder zu kommen.

Mercedes Lauenstein findet sich in dieser Assoziation wieder. Nicht umsonst sind ihre literarischen Vorbilder Schriftsteller mit guter Beobachtungsgabe und einem Faible für Sprachbilder. Viele von ihnen - Louis-Ferdinand Céline, Wolfgang Herrndorf oder Marc Fischer - sind bereits tot. Den Lebendigen möchte Mercedes Lauenstein lieber nicht begegnen. Zu oft hat sie bisher feststellen müssen, dass die Menschen hinter ihren Lieblingsbüchern unsympathisch waren, eitel und blasiert.

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Missgunst, Neid und Konkurrenz


Überhaupt tut sie sich schwer mit ihrer Zunft. „Ich kann meine eigene Branche nicht leiden. Dort tummeln sich viele unangenehme Menschen. Es gibt Missgunst, Neid und Konkurrenz“, sagt sie und schont sich selbst auch nicht. „Es würde mich weniger stören, wenn ich nicht so gefallsüchtig wäre, dass ich das Gefühl habe, ich muss gesehen werden und mit den richtigen Leuten reden.“ Umso wichtiger ist ihr die Entspannung jenseits des Literaturzirkus. Die findet sie nach dem Schaulaufen bei Freunden und bei ihrem Freund.

Mit ihm stößt sie auch auf neue Themen, bei gemeinsamen Streifzügen durch die Stadt. Ein Bild ein Satz und schon kommt eine Idee auf - immer spontan. „Ich kann das überhaupt nicht planen, obwohl ich es mir wünschen würde.“ Ihre Einfälle notiert Mercedes auf unzähligen digitalen und papiernen Notizzetteln. Ein kreatives Chaos, dass sie gerne bändigen würde, ohne dass es ihr gelingen will. Ihren Texten tut das keinen Abbruch. Auch ihr neues Buch entsteht auf diese Weise. Diesmal ein Roman im klassischen Sinne. Zwanzig Seiten hat sie schon geschrieben. Das Thema will sie noch nicht verraten.

Eine Fortsetzung von „nachts“ kann sich Mercedes auch vorstellen, denn das Ende ist so offen, dass es durchaus möglich wäre. Nur Andeutungsweise erklärt sich die Protagonistin und lässt den Leser auf angenehme Art im Unklaren. Eine Verwirrung, die der Autorin gefällt, ebenso wie die Frage, wieviel Fiktion in „nachts“ nun wirklich steckt. Die Antwort ändert sich je nach Laune. Die Fenster aus ihrem Buch gibt es wirklich, verrät sie heute. Sie sind alle über München verteilt. „Vielleicht klingele ich mal und finde heraus, wer tatsächlich dort wohnt. Und dann schreibe ich einen zweiten Teil.“ Möglich ist alles.

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Nachts

Eine junge Frau streift nachts durch die Straßen der Großstadt. Sie sucht nach dem letzten noch beleuchteten Fenster in einer Straße, um dort zu klingeln und unangemeldet wildfremde Menschen zu besuchen. Öffnet ihr jemand, behauptet sie, sie recherchiere Nachts für ein Projekt und würde gerne ein paar Fragen stellen. Auf diese Weise lernt sie höchst unterschiedliche Menschen kennen. Sie schildert 25 Begegnungen mit Menschen, die nicht schlafen können, und denen, die nachts gerne wach sind und sich erst schlafen legen, wenn der Tag schon graut. Die Erzählerin selbst umgibt ein Geheimnis, schon bald wird klar, dass sie aus anderen Gründen nachts unterwegs ist, als Menschen für ein Projekt zu besuchen. Ihre Geschichten lesen sich wie von selbst, sind rund, oft schließen sie mit einem Satz, der wie ein Akkord wirkt; die Sprache gleicht einem Handschmeichler: "Nadèche zuzuhören hat etwas Sinnliches, als würde man einer Art Brailleschrift folgen, nicht mit den Fingern, sondern mit sehr feinen Gehörspitzen." Mercedes Lauenstein ist Mitarbeiterin der jetzt-Redaktion bei der Süddeutschen Zeitung, deshalb stellt sich unweigerlich die Frage, ob die Begegnungen, die ihre Erzählerin schildert, real sind. Ist die Autorin womöglich selbst nachts losgezogen? Letztlich aber ist es gleich, ob Fiktion oder realer Hintergrund, weil die Geschichten eine fast unwiderstehliche Faszination ausstrahlen, weil es mutig wäre, Menschen des Nachts einfach so zu besuchen, ich selbst dafür aber viel zu feige bin und mich deshalb gerne von diesen Geschichten davon tragen lasse. Auch ohne Hintersinn oder Gesellschaftskritik, wie eine Rezensentin bemängelte, hat Mercedes Lauenstein schöne, geradezu sinnliche Erzählungen geschrieben; Stillleben, mit denen man gut eine Nacht verbringen kann.

Christoph Holzapfel

Christoph Holzapfel

rezensiert für den Borromäusverein.

Nachts

Nachts

Mercedes Lauenstein
Aufbau (2015)

191 S.
fest geb.

MedienNr.: 582809
ISBN 978-3-351-03614-0
9783351036140
ca. 18,95 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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