Michael Ende

„Fabeln wider den Zeitgeist“

 

Könnte es das Märchen, das die Wirklichkeit überwindet, ohne diese Wirklichkeit geben? Das ist, wenn man die phantastische Literatur durch „Tanz“ ersetzt und die Wirklichkeit durch „Schwerkraft“, eine von Michael Endes 44 Fragen, die ins Herz seines Schreibens zielt. Scheinbar beiläufig steht sie neben anderen kurzen Skizzen und Notizen in seinem postum herausgegebenen Lesebuch Zettelkasten (1994). Dieser Titel bezieht sich auf einen alten Schuhkarton, der mit seinem Autor wanderte, von München nach Genzano bei Rom und wieder zurück nach Bayern. Michael Ende (1929-1995) gilt als „Schrittmacher der neuen deutschen Kinder- und Jugendliteratur“. Er hat ihr zur Weltgeltung verholfen. Das schreibt seine Biographin Birgit Dankert. 90 Jahre nach seinem Tod sind es Endes Werke, die in mehr als 40 Sprachen weiterleben, Bestseller in multimedialen Formaten, Filmen, Hörbüchern und Hörspielen, in Büchern natürlich, die zum Erzählen und zum Vorlesen geschrieben sind, für Kinder vor allem.

Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (1960), Momo (1973) und Die Unendliche Geschichte (1979) sichern Michael Endes Ruhm, der jedoch der politischen Kritik zu fahl, für die realistische Literatur zu eskapistisch und den Ästhetikern manchmal etwas zu sinnhuberisch schien. Das alles aber ist ein Maß, an dem man diese Bücher schlecht messen kann, weil sie den Anspruch des Zauberhaften und des Wunderbaren in der Welt so vertreten, dass sich Kindern daran ebenso erfreuen können wie Erwachsene – und auch daraus lernen. Denn warum sollte es verkehrt sein, die Welt als eine Offenbarung anzusehen, die ihren Ursprung außer uns hat; als eine Schöpfung aus Gottes Hand, die deshalb Erzähler mit Talent beruft, mit ihrer Schönheit zu spielen.

Diesen Bodensatz seines Schreibens hat Michael Ende in einem Interview mit André Müller verraten, das ausgerechnet im Magazin Playboy (1983) erschien. Dort hört man auch von dem polyamourösen Autor, von dem Kind, das im Atelier des Vaters, des surrealistischen Malers Edgar Ende, Akte posieren sah und das auf der anderen Seite im Alter von 12 die ersten Bombenangriffe auf München erlebte, von dem Jugendlichen, der sich wenig später fragte, ob man mit der Matthäus-Passion jemals die Bilder des Holocausts bewältigen könne, die er in dem Dokumentationsfilm Nacht und Nebel gesehen hatte. Weder folgenlos, noch schrecklich fatal wie die Rasse- und Allmachtsphantasien der Nazis, sondern sowohl schön wie auch voller Verantwortung war die phantastische Welt der Literatur, in die sich der Erzähler Michael Ende dann in den 1950er Jahren hineinschrieb.

Michael Ende hat einmal bekannt, dass er die Bücher geschrieben hat, die er Kind gerne gelesen hätte. Es sind Bücher über Wunschwelten und Wunderfiguren, die man schwer vergessen kann: den Scheinriesen Tur Tur in Jim Knopf, den miesepetrigen Antiquar Koreander in der Unendlichen Geschichte, die grauen Herren, denen die Kinder in Momo die gestohlene Zeit wieder abjagen. Oder die Schildkröte, die in so gut wie jedem Buch von Ende aufkreuzt (in der Unendlichen Geschichte verrät sie Atreju, wo der neue Name für die Kindliche Kaiserin zu finden ist, der sie wieder gesund macht): ein Wappentier für Nutz- und Bedürfnislosigkeit, alt und lächelnd, mit einem Panzer, der der Hirnschale gleicht: eine Schädelbasislektion an Weisheit. Und, nicht zu vergessen, das „Büchernörgele“ in Der satanarchäologenialkohöllische Wunschpunsch (1989), einer herrlichen Kinderfarce über Marcel Reich-Ranicki, der sich weigerte, über das „Phänomen Ende“ zu sprechen.

Inzwischen sind Michael Endes Bücher längst grünen und esoterischen Fan-Gemeinden entwachsen. Sie sind Gegenstand des Schulunterrichts und der Forschung. Die Literaturwissenschaftlerin Julia Voss hat im Darwin-Jahr 2009 nachgewiesen, dass Jim Knopf Darwins frühem Reisebericht Die Fahrt der Beagle entsprungen ist. Dort heißt der Held Jemmy Button, ein farbiger Junge, ein Findling auf einer Insel, der seine Herkunft sucht. Endes Kinderbuch als „Gegenerzählung zur nationalsozialistischen Bildungspolitik“ (Voss), als eine seiner „Fabeln wider den Zeitgeist“ (Adolf Muschg): Das sind neue Seiten einer Lektüre, die auch beim mehrmaligen Vorlesen und deshalb auch gerade für Erwachsene nicht veralten kann.

Michael Ende, der auch weniger erfolgreiche Theaterstücke, Gedichte und kleine Balladen geschrieben und 1985 mit Josef Beuys über Kunst und Politik diskutiert hat, ist ein Erzähler, der den Glauben an das Schöne nicht verlieren konnte, weil er sich eine christliche Weltfrömmigkeit bewahrt hatte, die letztlich aus dem größten Fundus schöpft, den das Geschichtenerzählen hat: der Bibel. Eine andere der 44 Fragen von Michael Ende lautet, ganz in diesem Sinne: „Gehört die Bibel, die von Engeln, Dämonen und Wundern berichtet, zur phantastischen Literatur?“

Michael Braun

  • Birgit Dankert: Michael Ende. Gefangen in Phantásien. Darmstadt: Lambert Schneider bei der WBG, 2016.
  • Michael Ende: Zettelkasten. Skizzen & Notizen. Hrsg. von Roman Hocke. München: Piper: 2011.
  • - : Das Gefängnis der Freiheit. Geschichten von Wundern und Zeichen, von Geheimnissen und Rätseln. München: Piper, 2007.
  • - : Die Zauberschule. Und andere Geschichten. Mit Bildern von Regina Kehn. Stuttgart/Wien: Thienemann, 1994.
  • Julia Voss: Jim Knopf rettet die Evolutionstheorie. In: FAZ, 16.12.2008.
  • www.michaelende.de