Kaminers neues Buch „Die Kreuzfahrer" ist am 20. August im Wunderraum Verlag erschienen.

...ist Weltbürger, privat Russe und beruflich deutscher Schriftsteller.

Wenn Wladimir Kaminer den Mund aufmacht, purzelt eine Geschichte heraus. Und dabei ist es vielleicht sogar egal, ob man ihn nach seinem schönsten Ferienerlebnis fragt, nach dem Wetter oder ob © Jan Kopetzky er lieber Camembert oder Gouda aufs Brot will. Es sind die Geschichten, die sein Leben schreibt, gewürzt mit Fantasie und einem grandiosen Sinn für Humor. Die Übergänge sind dabei so fließend, dass der Zuhörer kaum erkennen kann, was real ist und was erfunden. 

Und Zuhörer hat er viele. Sie hängen geduldig an seinen Lippen, während er auf typische Kaminer-Art erzählt: langsam, mit vielen Pausen, in denen er den Blick nach innen zu richten scheint. Dabei bleibt seine Mimik erstaunlich ruhig. Kein Schmunzeln, kein Zwinkern, nicht mal ein Zucken der Mundwinkel kündigt eine Pointe an. Stattdessen erzählt er staunend von Begegnungen und Gegebenheiten, die sich an Skurrilität überbieten und überlässt es seinem Gegenüber, sich vor Lachen zu biegen.
Wer ihn einmal gehört hat, kann kein Buch mehr von ihm Lesen, ohne im Geiste die tiefe Stimme mit dem markant rollenden „R“ zu hören. Ein Markenzeichen von „Deutschlands beliebtestem Russen“, wie er gerne angekündigt wird. Er selbst sieht sich als Weltbürger und sagt er sei privat Russe, beruflich deutscher Schriftsteller. Und so muss es auch sein, denn sonst könnte er nicht so unnachahmlich und mit liebevoller Distanz über die Deutschen und ihr Land schreiben.

 

Ob es nun tatsächlich die russische Sicht ist, vermag ein Einheimischer dabei kaum zu beurteilen. Auf jeden Fall ist es die Sicht des Wladimir Kaminer und die ist immer interessant. „Es gibt drei Arten, die Welt zu sehen: die optimistische, die pessimistische und die von Wladimir Kaminer“, schrieb einmal die Frankfurter Rundschau über den 51-Jährigen, der mittlerweile seit 28 Jahren in Deutschland lebt. Und diese Sicht wirkt vordergründig unbedarft. Dahinter schwingt jedoch, mal leiser, mal lauter, immer auch ein kritisches Hinterfragen.
Seine Einwanderung ist eine hörenswerte Geschichte, wie so viele andere seines Lebens auch. Dabei geht es um einen jungen Russen, der gemeinsam mit seinem Freund André die Sowjetunion verlässt. © Danny Frede Nicht um nach Deutschland zu gehen, sondern um einfach erstmal rauszukommen aus diesem Land, das zwar seine Heimat ist, das er aber von Beginn an in Frage gestellt hat. „Ich war ein Dissident“, sagt er gerne in Interviews. Kaminer, der am 19. Juli 1967 als Sohn russisch-jüdischer Eltern geboren wird, jedoch mit christlichen Traditionen im Kollektiv aufwächst, kommt mit dem System nicht klar.  
Seine Eltern, ein Betriebswirt und eine Lehrerin, arbeiten viel und Kaminer besucht, wie damals üblich, einen Ganztagskindergarten. Auch während seiner Schulzeit sieht er die Eltern kaum. Eine Phase, die er in schlechter Erinnerung hat. Ihm erscheint die Bildungsstätte als Ort, an der die Kinder einer Gehirnwäsche unterzogen werden. Mit gerade einmal 14 Jahren entscheidet er sich, der „Folterschule der sozialistischen Diktatur“ den Rücken zu kehren, um eine Ausbildung zum Toningenieur zu machen. Später studiert er Dramaturgie am Moskauer Theaterinstitut und veranstaltet Partys in der Moskauer Rockszene, bevor er mit Anfang 20 auswandert.
In Ostberlin beantragt er humanitäres Asyl. Gemeinsam mit seinem Freund habe er auf dem Amt am Alexanderplatz gesessen und einen Fragebogen ausgefüllt. Unter anderem soll Kaminer angeben, warum er gerade nach Deutschland will. Hilfesuchend sieht er seinem Nebenmann über die Schulter und liest von dessen Begeisterung für Hoffmann und Hölderlin - sie seien seine besten Freunde. „Ich habe das dann von ihm abgeschrieben, André hat es von mir abgeschrieben und so weiter“, erzählt er im Interview bei ZDF Phoenix. So viele Freunde, wie auf diesem Behördenflur, hätten die beiden Poeten zu Lebzeiten wahrscheinlich nicht gehabt.

 

„Ich bin Geschichtenerzähler"


 

Während Kaminer auf diese bildhafte Weise erzählt, läuft bei den Zuhörern das Kopfkino. Sie sind bei ihm am Alexanderplatz, bei ihm, als er von seinem einzigen deutschen Geld – zwei Mark – ein Bier kauft, weil ihm der Bügelverschluss der Flasche gefällt. Sie sind bei ihm, als er die Deutschen für das bestgelaunte Volk der Welt hält – nicht wissend, dass sie gerade die Fußball-Weltmeisterschaft gewonnen haben. Sie begleiten ihn durch seine ersten Jahre in Berlin, lernen mit ihm seine Frau kennen und geraten mit ihm von einer erzählenswerten Begebenheit in die nächste.
„Ich bin Geschichtenerzähler“, sagt Kaminer und meint damit, dass er gar nicht anders kann, als das wiederzugeben, was ihm im Alltag begegnet. Seine Beobachtungsgabe, die Fähigkeit plakativ zu formulieren, gepaart mit Heiterkeit, der Freude am Philosophieren und einer gehörigen Portion Weisheit machen ihn zum erfolgreichsten deutschen Autor mit einer Gesamtauflage von 3,7 Millionen Büchern, die bereits in 30 Sprachen übersetzt wurden.
Acht Jahre nach seiner Übersiedlung beginnt in Berlin die Ära seiner legendären Russendisko, die er seither mit seiner Frau Olga im Café Burger und an vielen weiteren Orten in Deutschland veranstaltet. Das gut gelaunte Paar am DJ-Pult, osteuropäische Musik und reichlich Alkohol machen die Party zum Dauerbrenner. Sein gleichnamiger Debütroman „Russendisko“ aus dem Jahr 2000, in dem Kaminer vom Leben junger russischer Migranten in Berlin erzählt, machte das Phänomen deutschlandweit bekannt.
Seine Frau Olga, die Kinder Nicole und Sebastian, seine Eltern und Schwiegereltern, Freunde und Bekannte – sie alle macht Kaminer zu Protagonisten seiner Erzählungen. Treue Leser seiner Bücher haben das Gefühl, sein gesamtes Umfeld zu kennen. Seit September kann man mit Wladimir und Olga auf Reisen gehen. Im zweideutig betitelten neuen Erzählband „Die Kreuzfahrer“ nimmt Kaminer Leser und Zuhörer mit in die Karibik, nach Miami, ans Mittelmeer, nach Osteuropa und vor allem in den riesigen Mikrokosmos der Kreuzfahrtschiffe.
Er berichtet von Begegnungen auf und unter Deck, von Schlagerpartys und denkwürdigen Landgängen und stellt unter anderem fest: Kitschige Souvenirläden gibt es überall und einer verkauft sogar Putin. Wie so häufig lassen sich sozialkritische und philosophische Gedanken zwischen seinen Zeilen herauslesen. Etwa, wenn er von älteren Paaren schreibt, die nach 70 Kreuzfahrten überhaupt kein Bedürfnis mehr verspüren, auch nur einen Fuß an Land zu setzen. Da liegt sein Vergleich von Flüchtlingen und Urlaubern plötzlich sehr nahe.  

 

© Michael Ihle

In den karibischen Paradiesen erlebt Kaminer Sand, Palmen, Meer und Globalisierung live. Dieselben Modeketten und Stores, wie überall anders auch. Und Leguane, die ihr Refugium gerne von den Touristen zurückerobern würden. Griechenland beschreibt er als große brachliegende Baustelle, mit resignierten Menschen, die um ihren Lebensunterhalt kämpfen müssen. So berichtet er auf seine verwunderte Art von einer alten Griechin, die einen Reiseführerhandel aus einer Mülltonne heraus betreibt und überlässt es seinen Lesern zu lachen und gleichzeitig zu schlucken.


 

„Meine Bücher sind wie die Geschichte meines Lebens, die immer weitergeschrieben wird“, sagt Wladimir Kaminer.

Und wir lesen sie gerne – mal schmunzelnd, mal nachdenklich, nicht selten ertappt und auch schon mal entgeistert. Vielleicht werden wir in vielen Jahren seine Stories aus dem Seniorenheim lesen und hoffen, dass bis dahin noch viele Ereignisse aus der Kaminerwelt den Weg zwischen Buchdeckel finden werden.  

Headerbild © Katja Hentschel

 


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