
Literatur aus Indonesien
Neue Stimmen und nachgeholte Geschichtslektionen
Mit Indonesien ist zum ersten Mal ein Land aus Südostasien prominent auf der Frankfurter Buchmesse vertreten. Der Gastlandauftritt ist gleichzeitig das Debüt auf der literarischen und kulturellen Weltbühne. Zwar sind die Indonesier stolz auf ihre erzählerischen Traditionen, viele davon sind Spielarten von Lyrik, Gesang und mündlichem Vortrag. Selbstredend existieren in dem riesigen Staat, in dem über 250 Millionen Menschen aus 350 ethnischen Gruppen verteilt auf 17.000 Inseln wohnen, die unterschiedlichsten literarischen Formen, einschließlich Texte im Stil der europäischen Moderne. Leider ist nur ein mikroskopisch kleiner Teil davon jemals übersetzt worden. Viel Spaß bei der Lektüre und schreiben Sie uns, wie es Ihnen gefallen hat. Ihre Ulrike Fink, Redaktion
von Thomas Völkner
Der Auftritt in Frankfurt, der neben der Literatur auch künstlerische, musikalische und kulinarische Programmpunkte umfasst, beschert dem deutschsprachigen Buchmarkt einen Indonesien-Schub. Er fällt allerdings um einiges kleiner aus, als jene der vorangegangenen Gastländer Finnland, Brasilien und Neuseeland. Die Liste neuer Belletristik-Bände umfasst
kaum zwei Dutzend Titel, darunter einige, die in sehr kleinen Verlagen erscheinen. Gründe hierfür dürfte die weithin fehlende Indonesien-Expertise in der Branche, eine überschaubare Zahl literarischer Übersetzer und die relativ spät gestartete finanzielle Förderung durch das Gastland sein. Trotz allem: Mehrere äußerst empfehlenswerte Bücher warten jetzt auf möglichst viele Leserinnen und Leser. Es gilt, neue Stimmen zu entdecken und dabei mehrere Geschichtslektionen nachzuholen.
Massenmorde und Verbannung
Ein wenig bekanntes Kapitel der jüngeren Geschichte sind die Massaker im Indonesien der Jahre 1965/66, denen sich die jahrzehntelange Diktatur unter dem Präsidenten Suharto anschloss („Orde Baru/Neue Ordnung“). Nach einem Putsch linksgerichteter Militärs Ende September 1965, dessen genaueren Umstände bis heute nicht aufgeklärt sind, überzogen konservative Kräfte die Mitglieder der KP und andere vermeintlichen kommunistischen Staatsfeinde mit einer brutalen und in ihrem Umfang extremen Vergeltung: In wenigen Monaten massakrierten Soldaten und Angehörige paramilitärischer Einheiten zwischen 500.000 und mehr als einer Million Menschen. Genauere Zahlen sind nicht bekannt. Millionen wurden verschleppt, gefoltert und auf entlegenen Inseln interniert. Als die Verbannten nach eineinhalb Jahrzehnten zurückkehren durften, blieben sie als „Eks Tapol“ („ehemalige politische Gefangene“) gemeinsam mit ihren Angehörigen gesellschaftlich stigmatisiert. Erst nach dem Sturz des Diktators im Mai 1998 setzte langsam eine künstlerische Beschäftigung mit dem unterdrückten Geschichtskapitel ein. Zwei Autorinnen lassen jetzt mit gut recherchierten elegant geschriebenen Romanen aufhorchen.

Laksmi Pamuntjak erzählt in „Alle Farben Rot“ (zur medienprofile-Rezension) die Geschichte von Amba, die das Schicksal ihres Geliebten Bhisma in Erfahrung bringen will. Die gut 60-Jährige begibt sich auf die damalige Gefangeneninsel Buru, auf der der KP-Sympathisant Bhisma eingesperrt war. „Jetzt erst, nach fast einem halben Jahrhundert des Wartens, fand sie Antworten auf ihre Fragen.“, heißt es an einer Stelle. „Und was war für sie wohl schwerer zu ertragen: zu wissen, wie Bhisma starb, oder wie es kam, dass sie damals, vor einundvierzig Jahren, voneinander getrennt worden sind?“
Ausgehend von Ambas Suche gestaltet die Autorin eine groß angelegte Story auf mehreren Zeitebenen und aus verschiedenen Erzählperspektiven. Sie zeigt die junge Amba, die sich gegen mehrere Konventionen ihrer Zeit stellt und eine voreheliche Affäre beginnt. Die himmelschreienden Zustände in den Lagern zeichnet sie in Form von Briefen, die Bhisma an seine Geliebte schickt. Schließlich kommt ein Informant zu Wort, der die Polizei über Ambas Suche in Kenntnis setzt. Man merkt, dass staatliche Stellen bis in die Gegenwart hinein Angst vor jenen haben, die sich ein eigenes Bild über die damaligen Menschenrechtsverletzungen machen wollen.

Auf einer zweiten Ebene lässt sich der Roman auch als eine teilweise Neuinterpretation des indischen Epos „Mahabharata“ lesen, das in Indonesien in einer eigenen Variante existiert. In der Heldengeschichte ist Amba eine Frau, die zwischen zwei Männern steht – Bhisma und Salwa. Letzterer ist bei Laksmi Pamuntjak Ambas Verlobter. Die Autorin legt ihre moderne Geschichte über die vor mindestens 1.000 Jahren ins Javanische übersetzte Vorbild-Erzählung und verweist mittels Anspielungen und Parallelführungen auf die Bedeutung des alten Epos, die bis heute anhält.
Exil und Rückkehr
Leila S. Chudori erzählt in „Pulang (Heimkehr nach Jakarta)“ von vier Journalisten, die der Verfolgung im Herbst 1965 zufällig entkommen konnten und über mehrere Stationen nach Paris gelangten. Dort eröffnen sie ein indonesisches Restaurant, das zur Ersatzheimat sowie zum Ausgangspunkt für Aktionen der Exil-Community und für Rückblicke in das Indonesien vor den Massakern wird.
Weiterführende Informationen
Frankfurter Buchmesse / Ehrengast 2015
Laksmi Pamuntjak auf Wikipedia
Autorenseite in engl.
Leila S. Chudori auf Wikipedia
WDR 3, Leila S. Chudori im Gespräch mit Wera Reusch am 4.8.15
Ayu Utami auf Wikipedia
Landessprachlich, dafür mit einigen Bildern
Autor Andrea Hirata auf Wikipedia
Autorenseite in engl.
Schriftsteller Agus R. Sarjono
Wir können mehr als tanzen – Interview Deutsche Welle
Landessprachliche Seite
Martin Jankowski, Autor
Dramatiker Rendra
Lyrikerin Dorothea Rosa Herliany - Mit „Hochzeit der Messer“ erscheint kurz vor der Buchmesse erstmals ein umfangreicher Band mit ihren Gedichten in deutscher Übersetzung.
Die Autorin fährt in ihrer stimmungsvollen Geschichte ein großes Romanpersonal auf, darunter auch einen fünften Freund, der in Jakarta bleibt, dort untertaucht, später aber gefangengenommen und ermordet wird. Es entsteht ein vielschichtiges und multiperspektivisches Gemälde von Verfolgung, Flucht und Exil, zu dem auch die fortdauernde Einschüchterung durch Spitzel und Beamte der indonesischen Botschaft, nicht zuletzt aber die positiven Aspekte des unbedingten Zusammenhalts in der Fremde zählt. Die vier Indonesier gehen neue Beziehungen ein, heiraten und bekommen Kinder. Sie sind ihrem Aufnahmeland zugetan, und doch klafft bei ihnen eine enorme Lücke: Sie vermissen die Heimat, in die sie nicht zurückkehren dürfen.
Höhepunkt der Romanhandlung ist die Indonesienreise von Lintang, einer Frau aus der zweiten Flüchtlingsgeneration. Die Tochter eines der Exilanten soll als studentische Abschlussarbeit einen Dokumentarfilm über die Massaker und über deren Auswirkungen auf Staat und Gesellschaft drehen. Sie gerät unverhofft in die Demonstrationen gegen General Suharto und erlebt somit den jüngsten Wendepunkt
in der Geschichte des Landes. Mit dem Blick der Nachgeborenen, die die Realität des Jahres 1998 mit den Erinnerungen des Vaters vergleicht, fragt sich Lintang: „Die Menschen in Indonesien sind trotz all der unfassbaren Tragödien imstande, ihre Traumata zu ertragen oder sie sogar zu vergessen (oder sind sie womöglich gezwungen, sie zu vergessen?). Die Geschichte spielt für die Menschen hier nicht die größte Rolle (oder verdrängen sie die Vergangenheit?).“
Politische Befreiung
Die Zeit kurz vor dem Umbruch von 1998 liefert den Rahmen für den Roman „Larung“ von Ayu Utami (zur medienprofile-Rezension). Es ist nach „Saman“ bereits der zweite Roman der Autorin, der ins Deutsche übertragen wurde. Neben ihrer schriftstellerischen und journalistischen Arbeit ist Ayu Utami eine Aktivistin, die sich unter anderem für die Gleichstellung der Geschlechter und gegen überkommene Moralvorstellungen einsetzt. Mit einer Verquickung dieser Themen gelingt ihr in „Larung“ eine faszinierende Darstellung von Indonesien an der Nahtstelle von Diktatur und Demokratie.
Ihr Roman erzählt mehrere Geschichten, die vordergründig separat ablaufen, tatsächlich aber durch mehrere Motive ineinander verschränkt sind. Da ist zunächst die Story von vier Freundinnen, die sich zeitgleich in New York aufhalten. Eine erarbeitet dort eine Tanzperformance, eine andere sucht Kontakt zu einem Liebhaber, der jedoch die meiste Zeit abwesend ist. Sie findet Trost in der Nähe zu jener Freundin, die sich offen zu ihrer Bisexualität bekennt. Erst im Laufe der Handlung wird deutlich, dass es einen gemeinsamen Freund gibt, Saman, der wegen seines Einsatzes für die Menschenrechte in die USA fliehen musste und dem die vier jungen Frauen bei der Flucht geholfen haben. Bald nach der New-York-Reise wird Saman selbst zum Fluchthelfer. Nachdem er mit einem illegal beschafften Boot auf einer Insel landet, trifft er auf Larung, der eine kleine Gruppe fluchtbereiter Aktivisten begleitet. In dem repressiven Staat herrscht allerdings Misstrauen: Kann Saman dem unbekannten Larung trauen oder ist er vielleicht ein Parteigänger der Militärs? Und außerdem: Ist es derselbe Larung, der im Eingangskapitel des Romans seine Großmutter töten will und hierfür wie ein Held aus einem alten Epos eine beschwerliche Reise an einen mythischen Ort unternimmt?

In „Larung“ erzählt Ayu Utami, die der katholischen Minderheit angehört, eine Geschichte fort, die sie bereits im vorangegangenen Roman „Saman“ angelegt hat. In dessen Mittelpunkt war Saman noch ein Priester, der an der Seite von Kleinbauern einen Kampf gegen die übermächtigen Palmölkonzerne führt. Bereits da hat er Kontakt zu den politisch engagierten Freundinnen.
Bildung und persönliche Entwicklung
Andrea Hirata ist derjenige literarische Autor, der in den letzten Jahren die größten kommerziellen Erfolge feiern konnte. Der Protagonist seiner Romane ist Ikal, ein Junge von der entlegenen malaiischen Insel Belitung, der trotz widriger Umstände die Schule besucht, später studiert, ins Ausland geht und sein Glück findet. Über mehrere Bände verteilt gestaltet Hirata einen Entwicklungsroman, der für europäische Leser besonders anziehend sein dürfte, weil der Held immer neue Hindernisse überwinden muss, die hierzulande ungewöhnlich erscheinen. Dabei beschreibt der Autor die Mühen so heiter und schnörkellos, dass man die Romane – und das wäre nicht despektierlich gemeint – als „Wohlfühlbücher“ beschreiben könnte.

Schauplatz des ersten Bandes „Die Regenbogentruppe“ (zur medienprofile-Rezension) ist eine islamischen Zwergschule, in der Ikal und seine Mitschüler unterrichtet werden. Er beginnt situativ mit dem ersten Schultag, an dem es zunächst nicht sicher ist, ob die von den Behörden geforderte Mindestzahl von zehn Schülern überhaupt erreicht wird, und endet mit dem Entschluss, das während der Grundschulzeit Erlebte aufzuschreiben. Aus dem gesamten Text sticht ein Credo hervor: Der Erwerb von Bildung stellt gerade dort ein hohes Gut dar, wo die Bedingungen alles andere als ideal sind. Der Schulunterricht ist für die Kinder und ihre Eltern der einzige Ausweg aus dem Kreislauf aus Armut, Abhängigkeit und Ausbeutung.
Dabei sind die Widerstände gewaltig: Weil die auf Belitung maßgebliche Bergwerksfirma in der Erde, auf der die Schule steht, einen hohen Zinnanteil vermutet, will sie das Gebäude kurzerhand abreißen lassen. Diese Auseinandersetzung gegen einen übermächtigen Gegner verlangt von der „Regenbogentruppe“ und ihrer jungen Lehrerin viel Courage. Ebenfalls als Kontrapunkt zum Bildungsideal geraten jene Kapitel, in denen die Schulkinder beim Geldverdienen gezeigt werden. Hier sind sie auf einmal Kokosfleischraspler, Brotverkäufer, Pfefferpflücker, und es wird deutlich, was in vielen Gegenden von Indonesien der übliche Gegenentwurf zum Schulbesuch darstellt: Kinderarbeit.
Im zweiten Band „Der Träumer“ (zur medienprofile-Rezension) setzt Ikal seinen Bericht fort, in dem die ihn umgebende Welt subjektiv immer größer wird: Er besucht die Oberschule, bemüht sich um ein Stipendium, geht als erster aus seiner Familie drei
Jahre lang zum Studium ins Ausland und findet anschließend unter Schwierigkeiten – die Rezession herrscht in Indonesien – einen Job. „In meiner Familie war die höchste Bildungsstufe die meiner Mutter gewesen: ein paar Wochen Grundschule, gerade genug, um, wenn es darauf ankam, einen Text zu entziffern. Dieses Bewusstsein machte mich anfangs beklommen, zugleich aber motivierte es mich“, gesteht Ikal an einer Stelle des Romans. Andrea Hirata betont in „Der Träumer“ die ideelle Unterstützung, die er und sein Bruder Arai durch den Vater erfahren. Selbst der Rangniedrigste im Heer der Bergwerksarbeiter, lässt es sich der Vater nicht nehmen, bei jeder Zeugnisausgabe anwesend zu sein. Er scheint nicht zu verstehen, was die Söhne da studieren und welchen Nutzen man später daraus ziehen kann. Umso bemerkenswerter sind sein Stolz und seine Gewissheit, dass Ikal und Arai es schaffen werden.
Weiterführende Einblicke in die indonesische Literatur
2001 lernte der Autor, Kunst- und Literaturvermittler Martin Jankowski im Rahmen seiner Arbeit für das Internationale Literaturfestival Berlin zufällig den indonesischen Schriftsteller Agus R. Sarjono kennen. Was mit dem Eingeständnis eines blinden Flecks begann, wuchs zu einer Faszination für den südostasiatischen Inselstaat an und mündete in eine tiefgreifende Beschäftigung mit der dortigen Literatur. Seine seit 2001 entstandenen Texte und Interviews sind jetzt unter dem Titel „Indonesien lesen“ erschienen. Sie liefern kurzweilige und erhellende Einblicke in die Literatur des Gastlandes aus einer deutschen Perspektive.

Hinsichtlich des blinden Flecks betont Martin Jankowski, dass die indonesische Literatur nicht nur im Ausland kaum wahrgenommen werde, sondern auch im Inland. Das liege nicht an daran, dass es sie nicht gäbe oder dass sie unterentwickelt sei, sondern an Größe und Struktur des Staates. „Einer der Gründe (…) ist ihre große Komplexität, ihre schiere Unüberschaubarkeit, ihre stilistisch wie geografisch außerordentlich kontrastreiche Heterogenität und ihre wenig zentralistische Verfasstheit.“
Indonesien ist also nach Jankowski einstweilen zu riesig und zu mannigfaltig, dabei die übersetzte Stoffmenge zu klein, um seine Literaturen einigermaßen zu durchdringen. Umso wichtiger sind die vorliegenden journalistischen und feuilletonistischen Versuche, die unter anderem über ein Lyrikfestival berichten, ein Streitgespräch mit einem politischen Aktivisten wiedergeben und ein Schlaglicht auf den Dramatiker Rendra werfen.

In einem 2014 geführten Interview lobt die javanische Lyrikerin Dorothea Rosa Herliany die oben genannten Romane der jüngeren Schriftstellergeneration, in denen die tabuisierte Vergangenheit behandelt wird. Es könne „die Öffnung zur freien Meinungsäußerung und der freien Rezeption von Literatur in den letzten zehn, fünfzehn Jahren (…) als eine Wiederbelebung der Ära moderner indonesischer Literatur nach mehr als drei Jahrzehnten Stagnation gesehen werden“, so Herliany.
Thomas Völkner
Oktober 2015