Mauerfall und Wiedervereinigung in der Literatur
Vom glücklichsten Volk der Welt und den Erfahrungen seiner Bewohner
Mit dem Trabi durch „ein weites Feld“ der Wenderomane, an der Nikolaikirche vorbei zu "Kindermund und Schneckenmühle", führt Sie unser Autor zu den „Simple Storys“, der Silvesterfeier hin zum "Wahnsinn" der „Mauer auf Mauer zu“ Zeiten. Haben Sie die Stichworte neugierig gemacht? Viel Vergnügen bei der Lektüre und schreiben Sie uns wie es Ihnen gefallen hat. Ihre Ulrike Fink, Redaktion
von Thomas Völkner
„Es ist unmöglich. Man kann das 'glücklichste Volk der Welt' nicht ignorieren. Keine Chance, den ganzen Tag schon nicht.“ Der Westberliner Kriminalbeamte Hans Dieter Knoop schaut aus dem Fenster seiner Schöneberger Wohnung, beobachtet die Kundgebung, auf der Willy Brandt sein „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“ ins Mikrofon raunzt, hört die Jubelrufe der Landsleute aus Ost und West und auch die ersten Schmähungen jener Polit-Aktivisten, denen das schwarz-rot-goldene Pathos am Tag nach der Maueröffnung schon überhand nimmt. Knoop ist überrascht von der riesigen Freude, dem Zustrom der Ostberliner und der sich Bahn brechenden Kauflust. Als es plötzlich an der Tür klingelt, kommt es für Knoop noch schlimmer: „Plötzlich war meine Bude voll mit lauten, begeisterten Menschen, die alle behaupteten, irgendwie mit mir verwandt zu sein. Dabei hätte ich schwören können, keinem von denen jemals begegnet zu sein. Bis auf die alte Tante Erna, Rentnerin aus Ostberlin. Ich hatte sie des Öfteren zum Aldi-Markt begleitet, wo sie sich eindeckte mit Kaffee, Tempotaschentüchern und anderen Dingen des täglichen Bedarfs, die im Osten wohl Mangelware waren. Jetzt hatte diese Tante Erna ihre ganze Sippe mitgeschleppt. Der reine Horror. Ich wurde umarmt und geküsst wie ein verlorener Bruder.“
Eine riesige Materialfülle
Hans Dieter Knoop ist eine Figur aus „Wunderland“ von Oliver G. Wachlin. Der Kriminalroman spielt in den Wochen unmittelbar nach dem Mauerfall, als die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen vor allem in Berlin, an der Nahtstelle des Kalten Krieges,
förmlich zu greifen waren. Wachlin nutzt die Möglichkeiten des Genres, um einige Facetten des Veränderungsprozesses im Rahmen einer spannungsgeladenen Story vorzuführen: Mögliche Eingriffe der vier Besatzungsmächte in die laufenden Ereignisse, latente Gefahr eines bewaffneten Widerstands der DDR-Staatssicherheit, Radikalisierung einzelner politischer Gruppen und einiges mehr. Hinzu kommen natürlich die spektakulären, emotional aufgeladenen Bilder von Flüchtlingen, Trabbi-Kolonnen, Schlangen vor den Banken und Feuerwerkslichter über dem Brandenburger Tor.
25 Jahre nach den historischen Ereignissen bieten deutsche Teilung, Mauerfall, Währungsunion, Wiedervereinigung und Lebenserfahrungen im größer gewordenen Deutschland der erzählenden Literatur eine riesige Materialfülle. Dabei wurde der von Teilen des Literaturbetriebs in den 1990er Jahren vehement geforderte „Wenderoman“ inzwischen glücklicherweise zu den Akten gelegt. Damals herrschte die Vorstellung, ein namhafter Autor könne die einzigartigen Erfahrungen der Deutschen in einem sinnstiftende Roman nachzeichnen und ihnen so dauerhaft eine Bedeutung verleihen. Mittlerweile wird zwei, drei Nummern kleiner gedacht, geschrieben und rezipiert. Versatzstücke der Historie tauchen in allen literarischen Formen und Genrens auf: Es gibt Familiengeschichten, die das gesamte 20. Jahrhundert umfassen und in denen die Wende nurmehr ein Wendepunkt unter mehreren ist. Es gibt tragische Storys über Schuld, die in einem Gesellschaftssystem aufgeladen und im anderen beglichen wird. Es gibt an Sozialreportagen grenzende Beobachtungen von „Wendeverlierern“ und „Wiedervereinigungsgewinnlern“, und manchmal werden solche Storys auch ins Groteske gedreht. Es gibt Plots, in denen den Überresten der DDR, ihren Geistern oder Wiedergängern nachgespürt wird. Und natürlich liefert das angesammelte Faktenwissen über den ostdeutschen „Unrechtsstaat“ eine Fülle von Ansatzpunkten für Texte der Genres Krimi und Thriller.
Von „Wenderomanen“ und anderen Großerzählungen
Der große „Wenderoman“ als Sehnsuchtsprojekt der literarischen Klasse erfuhr seine Krise im Streit um „Ein weites Feld“ von Günter Grass und erlebte Jahre später eine Art Versöhnung mit Uwe Tellkamps „Der Turm“. Beide Titel zählen zu jenen ambitionierten Texten, in denen der Untergang der DDR mehr als nur gestreift wird. Abschließende Erklärungen und umfassende Sinnstiftung bieten allerdings beide nicht.
Vordergründig spielt „Ein weites Feld“ zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung. Tatsächlich dürfte es Grass um eine Betrachtung der demokratischen Umstürze und des reaktionären Machterhalts gegangen sein. Von der Revolution 1848 über Bismarcks Reichsgründung, die beiden Weltkriege bis zum Mauerfall geht es kreuz und quer durch das 18. und 19. Jahrhundert. Der ehemalige Vortragsreisende und jetzige Aktenbote Theo Wuttke ist der Hauptbegleiter auf der erzählerischen Tour. Er ist ein Kenner des Werks des Schriftstellers Theodor Fontane und wird deshalb von allen nur „Fonty“ genannt. Sein Antagonist, der „ewige Spitzel“ Hoftaller, weicht ihm nicht von der Seite. Der Roman enthält mehrere Kapitel, in denen die beiden auf einem zerschlissenen Sofa im Haus der Ministerien in Ostberlin sitzen. Verschiedene Dokumente aus DDR-Beständen, die für Menschen, Gruppen und Firmen in der neuen Gesellschaftsordnung von Nachteil sein könnten, stopfen „Fonty“ und Hoftaller kurzerhand in die ausgeleierten Ritzen. Es sitzt sich erstaunlich bequem auf den Hinterlassenschaften einer Diktatur...
Obwohl Grass mit Hoftaller das System von Unterdrückung und Auskundschaftung der eigenen Bevölkerung aufs Korn nahm, wurde ihm eine Verharmlosung der DDR vorgeworfen. Wahrscheinlich zielte die Kritik jedoch eher auf seine Darstellung der Arbeit der Treuhandanstalt, die Zeichnung der westdeutschen Figuren und sein grundsätzliches Eintreten gegen eine allzu schnelle Wiedervereinigung.
An den Streit über „Ein weites Feld“ wurde anlässlich der positiven Aufnahme von Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“ noch einmal erinnert. Einigen gilt Tellkamps Sittengemälde aus dem bürgerlichen Milieu im Dresdner Stadtteil Weißer Hirsch
als die bessere Herangehensweise an einen sinnstiftenden „Wenderoman“. Allerdings endet die Handlung des „Turms“ mit dem Tag des Mauerfalls, es wird hier also vornehmlich eine Geschichte des Untergangs der DDR präsentiert.
Drei Figuren stehen im Mittelpunkt der breit angelegten Handlung: Der am Anfang noch minderjährige Christian Hoffmann, der Arzt werden möchte, zuvor aber den Militärdienst absolvieren muss, in dessen Verlauf er sich strafbar macht und ins Gefängnis der Nationalen Volksarmee gesteckt wird. Daneben Christians Vater, der Chefarzt Richard Hoffmann, der sich aufgrund einer weit zurückliegenden Denunziation erpressbar gemacht hat. Schließlich Christians Onkel, der Verleger Meno Rohde, in dessen Tagebucheinträgen die Bedeutung von Kunst und Kultur in der DDR reflektiert wird. Alle drei Hauptfiguren müssen am Ende der Geschichte angesichts der Demonstrationen im Wendeherbst 1989 Farbe bekennen.
Demonstrationen in der Heldenstadt
Im Mittelpunkt von Erich Loests Roman „Nikolaikirche“ steht das Geschwisterpaar Alexander (Sascha) Bacher und Astrid Protter. Während Sascha als Stasi-Hauptmann das politische System personifiziert, versucht die zunehmend desillusionierte Astrid sich der staatlichen Vereinnahmung zu entziehen. Am Ende der sich in zahlreiche Nebenhandlungen erstreckenden Story, die fast die gesamten 1980er Jahre umfasst und in den großen Demonstrationen auf dem Leipziger Innenstadtring gipfelt, muss Sascha feststellen, dass seine Schwester sich längst den Protestzügen, die sich nach den Montagsgebeten in der Stadtkirche St. Nikolai auf den Weg machen, angeschlossen hat. Die Nikolaikirche schlagwortartig als Romantitel zu verwenden, ist programmatisch zu verstehen: Das Gotteshaus war Ausgangspunkt der Massendemonstrationen in der Heldenstadt Leipzig.
Sascha muss sich wie Astrid gegen den übergroßen Vater behaupten, einen Sozialisten, der schon in der Weimarer Republik für die KPD arbeitete, der Erfahrungen im sowjetischen Exil erwarb und in der jungen DDR bis zum General der Volkspolizei aufsteigen konnte. Dieser festen, systembewahrenden Vaterfigur gegenüber stehen diverse Figurenkonstellationen und Initiativen, mit deren Hilfe die allgegenwärtigen Missstände in der Schlussphase des ostdeutschen Staates thematisiert werden.
Kindermund und Schneckenmühle
Sommer 1989. Der 14-jährige Jens fährt mit anderen Kindern und Jugendlichen nach Sachsen ins Ferienlager. Organisiert wurden solche Reisen von Betrieben, bei denen die Eltern beschäftigt waren. Jens ist nicht zum ersten Mal mit von der Partie. Aber in diesem Sommer wird einiges anders sein als zuvor. Radikale Veränderungen sind dabei, die langjährigen Routinen hinwegzufegen. Das gilt für Jens selbst, der – die Pubertät lässt grüßen – manches neu betrachtet und empfindet. Und es gilt für den Staat, in dem er lebt und wo es schon in naher Zukunft keine Betriebsferienlager mehr geben wird.
„Schneckenmühle“ heißen das Zeltlager und der Titel des Romans von Jochen Schmidt, der darin eine detailgetreue, fast gefühlsechte Erinnerungstour durch die Kindheit im untergehenden Staat offeriert. Man erfährt von den Träumen, Wünschen und Ängsten des Jungen: „Ich darf nicht daran denken, was nach dem Sommer kommt, die neue Schule, acht Stunden Mathe in der Woche. (…) Meine Eltern sind aber sehr dafür, daß ich es versuche, sie sagen, einen Mathematiker könne man nicht zwingen, seine Forschungsergebnisse dem Marxismus-Leninismus anzupassen, die Zahlen seien ja, wie sie sind. Ich würde später von der Partei in Ruhe gelassen.“ Jens erkennt in dem Schulwissen, das mit der Ideologie aufgewogen wird, bereits eine der zukünftigen DDR-typischen Zwickmühlen. Hinzu kommt, dass seine Eltern mit ihrer christlich geprägten Haltung in Opposition zum Staat stehen und Kontakt zur Westverwandtschaft halten.
Jens erklärt sich die Welt, und er tut dies mit den Mitteln, die ihn in jenem Sommer zur Verfügung stehen. Was dabei herauskommt, klingt naturgemäß manchmal schief und wirkt komisch. Jochen Schmidt, bekannt als Lesebühnenautor und Verfasser humoristischer Zeitschriftenkolumnen, kreiert einen tollen Sound, um den DDR-Alttag aus dem Blickwinkel eines jungen Menschen darzustellen. Dass die Umwälzungen des Sommers 1989 – Stichworte: massenhafte Flucht über die ungarisch-österreichische Grenze, Besetzung der westdeutschen Botschaft in Prag, legale Auswanderungen – im Text kaum explizit genannt werden, sondern nur schemenhaft aufscheinen, ist dabei kein Nachteil.
Während in „Schneckenmühle“ die Mauer vorerst noch stehen bleibt, fällt sie im Comic-Roman „Kinderland“ tatsächlich. Und sie tut dies zeitlich so ungünstig, dass Mirco, der Protagonist der Geschichte, um ein großes Vergnügen gebracht wird, auf das er gegen den erbitterten Widerstand seiner Schule hingearbeitet hatte. Am 10. November 1989 sollte endlich das von ihm organisierte Tischtennis-Turnier über die Bühne gehen. Doch dann muss er mit den Eltern und der kleinen Schwester einen spontanen Ausflug nach Westberlin unternehmen. Vom Begrüßungsgeld, das jedem DDR-Bürger zustand, kauft er einen Tischtennis-Schläger – ein zunächst nur kleiner Trost, der im weiteren Verlauf der Story aber zu einer wichtigen Versöhnung führt.
In „Kinderland“ erzählt der Autor-Zeichner Mawil (bürgerlich Markus Witzel) auf 300 Seiten vor allem vom DDR-Schulalltag während der Wendewochen. Auch hier erscheinen die Umwälzungen inmitten zahlreicher Bezüge zum DDR-Alltag eher beiläufig. Sie sind jedoch deutlicher herausgearbeitet als bei Jochen Schmidt: Da tauchen einzelne Lehrer nicht mehr zum Unterricht auf, offensichtlich weil sie in den Westen gegangen sind. Mircos Eltern engagieren sich in der kirchlichen Friedensbewegung, während sein Freund Torsten von der alleinstehenden Mutter großgezogen wird, weil sein Vater in Westberlin lebt. Mirco, der gleichzeitig bei den Jungpionieren und den Messdienern mitmacht, erfährt schmerzlich den Spagat zwischen staatstreuer Anpassung und individualistischer Selbstbehauptung.
Nach der Wende
Ende der 1990er Jahre richtete Ingo Schulze in seinen „Simple Storys“ den Blick auf die Folgen der Wiedervereinigung für den Durchschnittsbürger aus den neuen Bundesländern. Sein Reigen von 29 schonungslosen Kurzgeschichten spielt in der thüringischen Kleinstadt Altenburg und deren strukturschwachen Umgebung. Einige Storys stehen für sich alleine, andere sind über Motive oder Figuren miteinander verknüpft. Um zu beschreiben, was die meisten Figuren verbindet, kann man den seinerzeit geläufigen Begriff „Wendeverlierer“ heranziehen. Schulzes Personal agiert zumeist passiv, ist enttäuscht, fühlt sich abgehängt von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozessen. Die früheren Mittelzentren sind teilweise entvölkert, und für die Daheimgebliebenen gibt es kaum Arbeit. Die „Einfachen Geschichten“ über einfach Leute zeigen mit dem Finger auf Tragödien, die durch Wende, Wiedervereinigung, Privatisierung und Arbeitsplatzverlust möglich wurden: Da wird etwa im Treppenhaus des Altenburger Arbeitsamtes ein Fangnetz aufgespannt, damit die Menschen sich nach einem missratenen Vermittlungsgespräch nicht in den Tod stürzen können.
Derart ökonomisch abgehängt, traten viele der Enttäuschten den Rückzug ins Private und in ein spezifisch ostdeutsches Heimatgefühl an. Den politischen und ideologischen Auswüchsen der DDR-Geschichte wurde die „heile Alltagswelt“ gegenübergestellt. Sie war eine neue Chance zur Identifikation und sorgte für Wohlbehagen trotz einer harten Alltagsrealität. Jens Sparschuh greift diesen Umstand in seinem Roman „Der Zimmerspringbrunnen“ auf. Er beschreibt den Nachwende-Werdegang von Hinrich Lobek, einst Mitarbeiter der kommunalen Wohnungsverwaltung, später Verkäufer von Zimmerspringbrunnen für einen westdeutschen Direktvertrieb. Als Lobek versehentlich einen dieser rein dekorativen Gegenstände fallenlässt und dabei ein Stück herausgebrochen wird, stellt er fest, dass der Brunnen jetzt beinahe die geografischen Umrisse der DDR aufweist. Also passt er die Verkaufsmasche an: Er formt alle Brunnen nach dem ehemaligen Staat um, gibt ihnen die Modellbezeichnung „Atlantis“ (nach der untergegangenen mythischen Insel), ritzt sogar noch Namen wie „Karl-Marx-Stadt“ ein … und erobert so quasi im Handumdrehen die Wohnzimmer zwischen der Ostsee und dem Erzgebirge. Sparschuhs von Humor und Ironie durchdrungene Geschichte kritisiert auch die Westdeutschen, die mit beinahe ethnologischem Interesse auf ihre ostdeutschen Kunden wie auf einen exotischen Volksstamm herabblicken.
Der westliche Blick
„Silvester hält nie, was es verspricht.“ Dieser abgeklärte Befund könnte als Motto über dem Roman „Freispiel“ von Andreas Platthaus stehen. Was die Silvesternacht 1989/90 den Protagonisten allerdings versprechen soll, bleibt undeutlich. Es sind ein
paar 20-jährige, die sich am letzten Tag des Wendejahres '89 weit im Westen der alten Bundesrepublik in ihre Autos setzen und sich auf den Weg nach Berlin machen. Leicht diffuse Gedanken, durchaus unbedarft formuliert, werden zu den Antriebsfedern der Tour: „Ein letztes Mal in zwei verschiedenen deutschen Staaten feiern, denn – das hört man ja überall im Westen – bald ist es mit der DDR sowieso vorbei.“ Es sind Vorstellungen von jungen Erwachsenen, die die Wahrheiten über Politik und Gesellschaft angesichts der epochalen Veränderungen noch nicht verstanden haben, die sich das gerade Erlebte ein Stück weit zusammenreimen und am Ende doch meistens mit sich selbst beschäftigt sind.
Aus der Perspektive der namenlosen Ich-Erzählerin, die mit Thomas, dem Alphamännchen der Gruppe liiert ist, erfährt man die Stationen der Reise: Eine lange Autofahrt, die Ankunft im Haus des Onkels im Berliner Südwesten, der Marsch zum menschenleeren Alexanderplatz, einige Momente des Feierns am Brandenburger Tor und dann – sicher am interessantesten – die Bekanntschaft mit vier mindestens doppelt so alten Ostberlinern, mit denen sie in Pankow den Rest der Nacht verbringen. In dieser Privatfeier prallen Erfahrungswelten und Lebenskonzepte aufeinander: Auf der einen Seite westliche Wohlstandskinder, die in der Schlussphase des Kalten Krieges aufgewachsen sind, auf der anderen die Ostdeutschen, die genauso alt sind wie ihr untergehender Staat. Einerseits das Auftreten in Siegerpose, wenn auch lang nicht so lautstark wie einige Politiker und Unternehmer in den Folgejahren, andererseits eine Mischung aus Verteidigung der Errungenschaften in der DDR, gepaart mit Resignation und aufkeimenden Existenzängsten: „Begreifst du nicht, was das für uns bedeutet? Was hier auf dem Spiel steht? Wir verlieren vielleicht alles. Und du, du willst dir hier die Sonne ins Gesicht scheinen lassen. Das Kapitalistenkindchen möchte in Ruhe gelassen werden, weil es andere Probleme hat. Aber unsere Probleme werden auch eure werden.“
Mauer auf … und wieder zu
Anno 2011: Hauptmann Martin Wegener von der Volkspolizei ist alarmiert. Ein Toter hängt an einer Erdgaspipeline, die von Russland über Berlin nach Westdeutschland führt. Wegener weiß instinktiv, dass durch diesen prominenten Fundort der Leiche eine Botschaft übermittelt werden soll. Und er ahnt, dass das Verbrechen mit den bevorstehenden Verhandlungen über die Energieversorgung von DDR und BRD zusammenhängt.
Mit dem Roman „Plan D“, der Elemente der Genres Krimi und Thriller mit dem Gedankenspiel der Alternativgeschichte kombiniert, nähert sich Simon Urban auf ungewöhnliche Weise den bekannten deutsch-deutschen Themen: Zwar hat die DDR 1989 weitgehend abgewirtschaftet und es war zur Öffnung der Mauer gekommen. Nachdem über zwei Millionen DDR-Bürger ihr Land in Richtung Westen verlassen hatten, kam es zu einer Neuformierung von Staatsspitze und Staatssicherheit – und die Mauer wurde 1991 wieder geschlossen. Die DDR erfuhr eine Wiederbelebung und existiert bis in die erzählte Gegenwart.
Mit dem angestrebten Energiedeal würde die Bundesrepublik der klammen DDR auf Jahre unter die Arme greifen. Doch in Bonn regt sich Widerstand: Der Westen will wissen, wie es im Osten um die Menschenrechte bestellt ist. Die „erneuerte“ Staatssicherheit, die angeblich nur noch als Inlandsgeheimdienst arbeitet, steht nämlich im Verdacht, in den Wendejahren zahlreiche politische Morde initiiert zu haben. Der Auftrag, den der Vopo Wegener erhält, ist entsprechend delikat: Er soll im Fall des Erhängten öffentlichkeitswirksam nach allen Seiten ermitteln – auch gegen die Stasi.
Simon Urban gibt im Roman bekannten Politikern und Prominenten völlig neue Betätigungsfelder. Bundeskanzler ist Oskar Lafontaine, Matthias Sammer trainiert die DDR-Fußballnationalelf, und das, was als Hartz IV bekannt ist, ist in Ostdeutschland nach Gesine Lötzsch, der ehemaligen Vorsitzenden der Linkspartei benannt. Die Reform-Stasi konnte derweil ihren Vorsprung in puncto Überwachungstechnik in bare Münze umwandeln: Sie hat ein Kombigerät aus Handy und Navi auf den Markt gebracht, das den westlichen Produkten haushoch überlegen ist.
Wahnsinn!
Der Fall der Mauer, die Berlin mehr als 28 Jahre trennte und die sinnbildlich für die gesamten Grenzanlagen zwischen den deutschen Staaten steht, wurde von den Zeitgenossen, besonders von jenen, die damals unerwarteterweise die Grenze überqueren oder Landsleuten von der anderen
Seite begegnen durften, oft spontan mit Aussprüchen wie „Das ist irre!“ oder „Wahnsinn!“ kommentiert. Was gestern noch als unvorstellbar galt, war plötzlich möglich. Entsprechend atemlos, direkt und vorläufig unreflektiert fielen die Reaktionen aus. Den gefühlten Irrsinn und die empfundenen wahnsinnigen Geschehnisse fängt Thomas Brussig in seinem satirischen Roman „Helden wie wir“ ein, der nicht vergessen werden sollte. Bei Brussig behauptet der Ich-Erzähler Klaus Uhltzscht in einer irren Selbstüberschätzung, er habe mir seinem aufgrund einer Operation riesigen Genital für die Öffnung der Mauer gesorgt. Überhaupt sei die DDR genau während seines gut 20-jährigen Lebens Stück für Stück verkümmert und untergegangen.
Eine radikale Personalisierung – auch das eine Möglichkeit, dem epochalen Wendepunkt der deutschen Geschichte literarisch beizukommen.
Thomas Völkner
Juli 2014
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31. Dezember 1989: Ein bewegendes Jahr endet mit der größten Silvesterparty, die Deutschland je gesehen hat: Hunderttausende feiern den Jahreswechsel rund ums Brandenburger Tor. Die Bilder gehen um die Welt © 2014 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
bunte Mauer: Dieses Bild wurde 1986 von Thierry Noir am Bethaniendamm in Berlin-Kreuzberg fotografiert. Man sieht eine Grenzstreife der DDR - Noir aus der deutschsprachigen Wikipedia Creative-Commons-Lizenz
Berlin, Grenzübergang Bornholmer Straße - Bundesarchiv, Bild 183-1989-1118-028 / CC-BY-SA