Kirche wird anders – aber wie?

Gedanken zum Veränderungsprozess im Bistum Essen

Ein wunderbarer Vortrag zum 54. Diözesantag der Katholischen Öffentlichen Büchereien im Bistum Essen am 29.10.2016. Die Gedanken zum Veränderungsprozess im Bistum Essen, können Impulse geben für eigene Prozesse, im Bistum, in der Bücherei und anderen Orten. Kontakt über die Redaktion.

Da der Text sehr lang ist, stellen wir Ihnen eine pdf ohne Bilder zur Verfügung, zum einfacheren Lesen. Eine lohnenswerte Lektüre, Ihre Ulrike Fink, Redaktion.

von Monsignore Klaus Pfeffer, Generalvikar im Bistum Essen

Als Generalvikar werde ich häufig darum gebeten, Gedanken zu den Veränderungen in unserem Bistum und in der Kirche insgesamt vorzutragen. Meist erwartet mich ein vergleichbares Muster: Das Publikum hört erst einmal gespannt zu – und dann geht es los. „Veränderungen? Ja, ist uns schon alles klar, das muss es geben. Aber doch bitte nicht bei uns! Sagen Sie uns bitte, dass es uns nicht wirklich betrifft! Oder sorgen Sie zumindest dafür! Wir sind nämlich besonders wichtig! Und außerdem sollten wir mal darüber reden, wer Schuld daran trägt, dass es um die Kirche so schlecht bestellt ist. Dann sollen die mal dafür sorgen, dass es wieder besser wird!“ Nicht selten geht es dann auch schon mal recht emotional zur Sache.

Ich kann das verstehen: Das Ausmaß der Veränderungen gerade in unserem Bistum ist gewaltig: Die Zahl der Kirchenaustritte steigt unentwegt, dadurch gehen wichtige finanzielle Ressourcen verloren. Gewohnte kirchliche Strukturen schrumpfen; immer weniger Katholiken sind bereit, sich hauptberuflich oder ehrenamtlich zu engagieren. Jede und jeder erlebt im eigenen privaten Umfeld, wie sich Menschen immer weiter von unseren kirchlichen Welten entfernen. Natürlich erhoffen sich viele Katholiken Lösungsrezepte, die diese Entwicklung aufhalten und am besten gleich wieder rückgängig machen. Ich ahne dahinter den Wunsch, dass sich irgendwie retten lässt, was wir in unserer Kirche aus einer vermeintlich „guten“ Vergangenheit gewohnt sind.

Auch mich macht es traurig, dass Christentum und Kirche in unserer Gesellschaft an Bedeutung verlieren. Es tut mir weh, wenn immer weniger Menschen meinen Glauben und meine Überzeugungen teilen – und ihn sogar für irrelevant halten. Auch mich erschreckt, wie rasend schnell manche Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten verlaufen sind. Aber ich mache mir nichts vor: Die Entwicklungen sind nicht aufzuhalten. Sie haben gute Gründe, sind nachvollziehbar und könnten uns sogar wertvolle Anstöße geben - wenn wir innerhalb unserer Kirche nicht in Abwehr und Widerstand verharren, sondern uns um ein Verstehen bemühen, warum denn so vieles nicht mehr „geht“, was in der Vergangenheit scheinbar „ging“.

 

Über den Tellerrand schauen


Mir hat in meinen vielen Priesterjahren und auch in meinem Christenleben davor stets geholfen, über den Tellerrand unserer kirchlichen Welt hinaus zu schauen. Die Jugendarbeit hat mich dazu angehalten; natürlich auch meine berufliche Herkunft aus dem Journalismus. Das Denken und Fühlen mit der jungen Generation; aber auch die journalistische Haltung, mit eine gesunden Distanz auf die Dinge zu schauen, helfen dabei, viele gesellschaftliche Veränderungen besser zu verstehen.

Es ist für Christen wichtig, die Welt und die Menschen zu kennen und zu verstehen – und nicht die eigene kleine kirchliche Lebenswelt für das Maß aller Dinge zu halten. Wir glauben schließlich an einen Gott, der sich mitten in diese Welt hinein begeben hat und der möchte, dass wir mithelfen, IHN in die Welt zu tragen.

Darum will ich heute gar nicht so viel über kirchliche Dinge erzählen und aus der Bistumswelt berichten, sondern mit Hilfe von Büchern in die Welt blicken. Bücher sind so etwas wie ein Spiegel ihrer jeweiligen Zeit und ihrer Gesellschaft. Sie lehren auch eine Menge darüber, wie Religion, Glaube, Kirche und Christentum von einer breiten Mehrheit der Gesellschaft gesehen werden. In der aktuellen Literatur verblüfft mich zuweilen, wie intensiv Autoren sich mit religiösen und auch kirchlichen Fragen auseinandersetzen. Manche Bücher – das gebe ich offen zu – bewegen mich zuweilen intensiver als Predigten oder andere kirchliche Verlautbarungen das tun. Bücher können geistliche Schätze sein, aus denen Christen durchaus schöpfen können. Darum sollten wir sie innerhalb unserer Kirche deutlicher wahrnehmen!

So begebe ich mich auf eine kleine Reise durch meine persönlichen literarischen Entdeckungen der letzten Zeit - und will Ihnen daran aufzeigen, welche Erkenntnisse ich dabei für unsere kirchlichen Veränderungsprozesse entdecke.

 

Die traditionelle Kirche als Auslaufmodell


In Ferienzeiten lese ich gerne Kriminalromane des deutschen Autors Friedrich Ani. In seinen Romanen tauchen Protagonisten auf, die als Sinnsucher durch ihr Leben gehen. Vor einigen Jahren schrieb Ani einige Romane über einen Kommissar, der einige Jahre als Mönch gelebt hatte und sich immer wieder an diese Zeit erinnert. So geraten dann auch Psalmverse und geistliche Gedanken mitten in die Mordermittlungen hinein. (Vgl. Ani, Friedrich: Hinter blinden Fenstern. Wien 2007. Einer von mehreren Romanen, bei denen der Hauptkommissar Polonius Fischer, im Mittelpunkt steht.)

Seine bekannteste Romanfigur aber ist Tabor Süden, ein ehemaliger Kommissar, der nun als Privatdetektiv vermissten Menschen auf der Spur ist. Auch Tabor Süden grübelt viel und sinniert über die Grundfragen des Lebens. Aus einem der jüngsten Tabor-Süden-Romane (Ani, Friedrich: Der einsame Engel. München 2016.) habe ich eine Szene in Erinnerung, Friedrich Ani scheinbar beiläufig einen Sonntagmorgen schildert, an dem Tabor Süden das Glockengeläut einer nahegelegenen Kirche hört. Die Glocken rühren ihn Irgendwie an - und dann heißt es, dass ihm in diesem Moment einfällt, immer noch nicht aus der Kirche ausgetreten zu sein, obwohl er sich das doch schon so oft vorgenommen hatte.

Einige Seiten später folgt ein kurzer Dialog von Tabor Süden mit seiner Kollegin über die Bedeutung des Glaubens für das eigene Leben. Es sind karge Sätze, die keineswegs ein überschwängliches Glaubenszeugnis darstellen. Aber sie kennzeichnen das Verhältnis vieler Menschen zur Kirche: Es gibt nur noch eine äußerst schwache Kirchenbindung, die eigentlich schon keine mehr ist. Der Kirchenaustritt wird „vergessen“, solange es dafür keinen hinreichenden Anlass gibt – sei es in finanzieller Hinsicht oder sei es aus Gründen öffentlicher Empörung auf Grund irgendeines neuen Kirchenskandals. Immerhin: „Irgendwie“ scheint es noch eine religiöse Sehnsucht zu geben, die davon abhält, die Verbindung zur Kirche endgültig aufzugeben. Aber das „irgendwie“ ist eine schwache Verbindung - die Wellenbewegungen bei den Kirchenaustritts-Zahlen belegen dies eindrucksvoll. Es braucht nur einen öffentlichen Skandal oder eine persönliche Kirchen-Verletzung – und der Kirchenaustritt wird vollzogen.

 

Die Entfernung zur Kirche hat natürlich Ursachen


Im aktuellen Roman von Thomas Glavinic (Der Jonas-Komplex. Frankfurt 2016. Die folgenden Zitate sind diesem Roman entnommen.)  ist mir eine wesentliche Ursache sehr deutlich geworden: In unserer Kirche gibt es zu wenig Raum für das offene und ehrliche Ringen der Menschen um die Fragen des Lebens - und vielleicht auch um die Frage nach Gott. Glavinic beschreibt in seinem Roman das Denken eines Jugendlichen, der unter schwierigen Bedingungen in einem problematischen sozialen Milieu aufwächst. Immer wieder philosophiert er über Gott:

„Ich bete manchmal. In meiner Familie glaubt niemand an Gott, ich eigentlich auch nicht so ganz, aber man kann nie wissen. Normalerweise bete ich darum, dass ich nicht mehr unglücklich sein muss und irgendetwas passiert, das alles gut macht. Und darum, dass M. meine Freundin wird. Bislang sieht es nicht so aus, als würde er Zeit haben, zuzuhören.“

Gott ist dem Jugendlichen sehr fern und dennoch ringt er mit ihm. Er stellt ihm Fragen, klagt ihn an, hofft auf ihn und verzweifelt dann wieder. An vielen Stellen des Romans zeigt sich die Sehnsucht nach einem Gott, der das Leben trägt und sichert, während die Realität des alltäglichen Lebens jedoch die Einsamkeit des Menschen offenlegt:

„Mein Leben, ein Strom von Zufällen, Ereignissen, Gefühlen und Entscheidungen – so wie jedes Leben. Doch niemals wird ein anderer meines nachfühlen, niemand wird je wissen, wie es war, zu werden, was ich gewesen bin und zu sein, was ich geworden bin. Es ist in mir und nur in mir und kann von niemanden bewahrt und von niemanden beschützt und von niemanden geraubt werden.“

Gleichzeitig taucht im Laufe des Romans immer wieder die Sehnsucht nach einer Hoffnung gegen alle Hoffnung auf. Eine andere Figur seines Romans schöpft Kraft aus den kleineren und größeren Wundern, die diese in ihrem Leben als Geschenk erfährt:

„Wunder sind etwas Schönes, es gibt so viele schreckliche Dinge um uns, für die uns jedes Verständnis fehlt. Wunder sind die herrlichen Dinge, für die uns jedes Verständnis fehlt. Wunder sind der Gegenschlag, Wunder sind der Konter, Wunder sind das Aufbegehren gegen die Hoffnungslosigkeit und vielleicht sind sie sogar ihre Bezwinger. Ich glaube, wir trauern alle ständig über die totale Abwesenheit von Wundern, weil sie uns spüren lassen, dass unser Schöpfer uns allein gelassen hat.“

 

Mich beeindruckt dieses Hin- und Hergerissensein zwischen Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit, zwischen Glaube und Zweifel.


Die Kirche spielt in diesem Roman allerdings keine Rolle. Lediglich an einer Stelle taucht eine Kirchenkritik auf, die es in sich hat. Der eben bereits erwähnte Junge betrauert den plötzlichen Tod eines Freundes. Er ist nicht in der Lage, an dessen Begräbnis teilzunehmen und schildert dann, was er von kirchlichen Begräbnisfeiern hält:

„Im Gemeindeblatt haben sie die Begräbnispredigt abgedruckt, weil angeblich alle so ergriffen waren. Ich kann nur sagen, so einen Haufen Banalitäten, Lügen, Floskeln und Schwachsinn habe ich selten gelesen. Als hätte es die Blicke der Leute nicht gegeben, ihre Abneigung, ihre Verunsicherung, wenn sie meinen Freund gesehen haben. Aber es muss sich etwas bloß richtig anhören, dann sind die Leute zufrieden und alles, was man in so einer Situation schon einmal gehört hat, hört sich richtig an.

Als Pfarrer kann man sowieso kaum etwas falsch machen, alles wartet auf salbungsvolles Gewäsch und ein paar Plattheiten, da kann man auch einen Schimpansen vorne hinstellen und ihm eine Soutane überziehen. Wenn der ein bisschen mit seinem Weihwasserlöffel herumfuchtelt und etwas davon verspritzt, wird es genügend Leute geben, die sich trotzdem gesegnet fühlen, da würde ich darauf wetten. Sie freuen sich also von einem Affen mit Wasser bespritzt zu werden, weil ihr Leben danach besser ist als vorher. Das muss man mal durchdenken.“


Diese Zeilen klingen scharf und provokant – aber sie sind keineswegs weit her geholt: Begräbnisgottesdienste, Trauungen und Taufen sind immer wieder Anlass für Irritationen und Enttäuschungen bei Menschen, die nur selten eine Kirche besuchen, aber bei diesen Gelegenheiten mit persönlichen Bedürfnissen und Erwartungen kommen – und dann eben auf wenig Verständnis stoßen. Es könnte sich lohnen, deren Wahrnehmungen und Rückmeldungen ernsthaft wahrzunehmen, um zu begreifen, warum unsere Kirchen auf immer weniger Akzeptanz und Interesse stoßen.

 

Ein überraschender Bestseller zu einem Kirchenthema


Dieses sarkastische Urteil über kirchliche Handlungsweisen aus dem Roman von Thomas Glavinic veranlasst mich, auf ein Buch zu verweisen, das nicht zur Romanliteratur zählt, mich aber sehr aufgewühlt hat. Es handelt sich dabei um einen ungewöhnlichen Überraschungserfolg eines Buches, das sich dezidiert mit kirchlichen Themen beschäftigt und binnen weniger Wochen auf der Bestseller-Liste des SPIEGEL landete.

Erik Flügge, ein junger Politikberater, der aus der kirchlichen Jugendarbeit erwachsen ist und kurze Zeit auch einmal Theologie studiert hatte, veröffentlichte im Frühjahr sein Buch mit einem provokanten Titel: „Der Jargon der Betroffenheit – wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt“ (München 2016. Die folgenden Zitate stammen aus diesem Buch.). Erik Flügge rechnet schonungslos nicht nur mit der Sprache ab, die in kirchlichen Kreisen gesprochen wird. Er wirft den Predigerinnen und Predigern in der katholischen Kirche vor, mit ihrem Denken und Reden, aber auch mit ihrer Lebensweise in vergangenen Jahrzehnten stecken geblieben zu sein. Was sie von sich gäben, sei banal und nichtsagend geworden - geprägt von Floskeln und wenig aussagekräftigen Sprachbildern. Auch die liturgisch-pastoralen Methoden kritisiert Erik Flügge scharf:

„Statt klarer, pointierter Aussagen, werden Menschen esoterisch-emotional verführt. Mit Symbolhandlungen, denen es an Inhalt fehlt, die aber große Emotionen auslösen.“

Erik Flügge sieht nur wenig Aussicht auf Veränderung: Die Kirche „als System“ ziehe ein bestimmtes Milieu von Menschen an, das von einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamen Argumentationsmustern sowie gemeinsamen Denk- und Verhaltensweisen geprägt ist. Menschen, die ganz anders „ticken“, haben da keine Chance.Aus seinem Buch ist mir eine Passage besonders in Erinnerung geblieben, in der er von einem Gespräch mit einem Priester über dessen Predigtarbeit berichtet. Flügge hatte die Absicht, dem Prediger Tipps und Hilfen zu geben, um seine Arbeit zu verbessern. Im Laufe des gemeinsamen Gesprächs äußert der Priester dann folgendes Eingeständnis:


„Ich glaube ganz einfach nicht, dass eine Predigt etwas verändert. Ich weiß, anderen ist das wichtig, aber ich glaube nicht daran. Ich habe noch nie erlebt, dass eine Predigt etwas ändert.“


Erik Flügge ist erschrocken. Da glaubt ein Priester nicht an die Wirksamkeit seines Sprechens. Hier zeigt sich möglicherweise ein Schlüssel für viele innerkirchliche Probleme: Es mangelt an existenziellem, authentischem Glauben. Kirche wirkt zuweilen wie ein Religionssystem, zeigt sich aber nicht als Gemeinschaft oder Netzwerk existenziell glaubender Menschen. Kirche ist so nicht mehr als ein „Betrieb“, der religiöse Gewohnheiten pflegt und soziale Bedürfnisse zu befriedigen versucht.

Bezeichnend ist eine weitere Szene, in der Erik Flügge einen Werktagsgottesdienst in der Gemeinde eines befreundeten Priesters besucht. Flügge schreibt:

„Ich sitze allein zwischen wenigen älteren Menschen, die gekommen sind. Vor dem Gottesdienst, währenddessen oder danach spricht mich niemand an. Niemand nimmt Kontakt auf zu einem jungen Mann, der plötzlich an einem Mittwoch in einer Kirche in der Provinz sitzt. Niemand heißt mich willkommen, niemand fragt mich, was ich hier tue, niemand spricht mich darauf an, dass ich das erste Mal in diesem Gottesdienst in dieser Kirche bin. Ich werde nur schlicht angeschaut und ignoriert. In dieser Kirche fühlt sich niemand als Gastgeber, alle sind nur Besucherinnen und Besucher. Die ganze Aufgabe der Integration in die Gemeinschaft wird delegiert an den Priester. Ich habe das Gefühl, die Gottesdienstbesucherinnen und –besucher erleben sich nicht als Teil einer Gemeinschaft, in der jeder Verantwortung trägt, sondern sind schlicht Gottesdienstkonsumenten, quasi als Fernsehprogramm, an dem man selbst teilnimmt, aber man bleibt Zuschauer und wartet ab, was auf der Bühne passiert.“

Flügges Urteil ist vernichtend. Er beschreibt eine „kommunikative Verwahrlosung“ innerhalb unserer Kirche, in der sich niemand für etwas zuständig fühlt und sich niemand Zeit nimmt, für diejenigen, die möglicherweise neu dazu stoßen:
 
„Das gesamte System Gottesdienst interessiert sich nicht für die Menschen, die daran teilnehmen.“

Erik Flügges Buch wird derzeit innerhalb unserer Kirche intensiv diskutiert. Veranstaltungen mit ihm sind überfüllt und sorgen für viele Debatten. Offensichtlich hat er einen wunden Punkt getroffen. Viele Menschen in unserer Kirche empfinden ähnlich, wie er es beschreibt.

 

Geistliche Suche in der Literatur


In vielen aktuellen Büchern fällt mir auf, dass die literarischen Protagonisten intensiv nach einem Sinn in ihrem Leben suchen und dabei die Frage nach Gott nicht ausklammern. Allerdings spielt der Raum der Kirche dabei nur am Rande eine Rolle – wenn überhaupt. Daran wird deutlich: Die Auseinandersetzung mit Religion, Glaube und Transzendenz ist in unserer Gesellschaft nach wie vor aktuell - aber sie findet kaum in der Kirche statt.

Vielleicht hängt dieses Phänomen auch damit zusammen, dass institutionalisierte Glaubensgemeinschaften in der Regel einen Wahrheitsanspruch erheben, der das offene und freie Denken und Reden behindert und unmöglich macht. Ein beeindruckendes Beispiel liefert die Geschichte von Deborah Feldmann, einer amerikanischen Jüdin, die in der chassidische Satmar-Gemeinde in New York aufgewachsen ist. In Ihrem Buch „Unorthodox“, das in den USA zu einem Bestseller geworden ist und in diesem Jahr auch in Deutschland erschien, beschreibt sie ihre Leidensgeschichte. (Feldman, Deborah: Unorthodox. Eine autobiographische Erzählung. Zürich 2016. Hieraus sind die folgenden Zitate entnommen.)

Die Satmar-Gemeinde ist eine extreme jüdische Sekte, deren Angehörige Nachfahren der vom Nationalsozialismus ermordeten Juden in Deutschland sind. Sie interpretieren den Holocaust als eine von Gott verhängte Strafe für die Abweichung der Juden von ihren religiösen Traditionen. Deshalb führt diese Sekte ein abgeschirmtes Leben nach strengen Vorschriften.

Deborah Feldmann spürt schon früh als junges Mädchen ein Unbehagen an der strikten Unterwerfung unter die vom Gründungsrabbiner der Sekte aufgestellten Lebensgesetze. Sie nimmt wahr, dass viele dieser Lebensgesetze ungerecht und frauenfeindlich sind sowie ein extremes familiäres Machtdenkens offenbaren. Heimlich gelesene Literatur ist es schließlich, die ihr dabei hilft, sich aus der Umklammerung ihrer Sekte zu befreien. Zunächst erduldet sie noch die ihr auferlegte Zwangsehe, die natürlich zum Scheitern verurteilt ist. Als sie ein Literaturstudium beginnt und sich mit Poetik beschäftigt, macht sie dann eine entscheidende Entdeckung: Sie lernt von einem Gedicht die Bedeutung des intuitiven Gefühls und begreift,


„dass man der Intuition gegenüber der Logik, dem Emotionalen gegenüber dem Intellekt Priorität einräumen könnte.“


Dann schreibt sie:
„Wenn ich jetzt zurückschaue auf meine eigene Kindheit, auf die Art, wie ich stets meinem Bauchgefühl vertraut habe, verstehe ich den Sinn; und das gilt sogar für solche Situationen, in denen die Logik mit Nachdruck zur Zurückhaltung gemahnt hat. Jeden gewagten Sprung, den ich in meinem Leben riskiert habe, kann ich auf ein Gefühl zurückführen und nicht auf einen rationalen Gedanken.“

Wenig später ist sie soweit, sich von ihrer Sekte und aus ihrer Ehe zu befreien. Sie schreibt:
„Wie passend, dass sich die Fundamente des Zuhauses meiner Kindheit auflösen, als ich auch die prägenden Fundamente meines Glaubens dem vollständigen Zusammenbruch nähern. Ich nehme auch dies zum Zeichen, dass ich auf dem Weg bin, auf dem ich vor langer Zeit schon von einer Macht gebracht worden bin, die größer war als meine eigene. Gott möchte, dass ich hierfür nie bestimmt war“.

Deborah Feldmann erzählt eine eindrucksvolle Geschichte ihres persönlichen Glaubens, den sie deutlich unterscheidet von dem, was ihre religiöse Sozialisation ihr vermittelt hat. Ihre Lebensgeschichte ist vor allem eine Befreiungsgeschichte und eine massive Anfrage an jegliche religiöse Organisation, die nicht wahrnehmen will, dass Religion viel zu oft dazu dient, persönliche Machtinteressen zu verschleiern und für sakrosankt zu erklären. Deborah Feldmann erkennt dieses Phänomen und bewahrt sich dadurch ihren persönlichen Gottesglauben. Mehr noch: Sie weiß sich auf ihrem Befreiungsweg von Gott geführt. Der Gott, an den sie glaubt, ist durchaus ihr jüdischer Gott – aber sie sieht ihn in keiner Weise in Übereinstimmung mit der Gottesvorstellung ihrer Gemeinschaft.

Inzwischen lebt Deborah Feldmann mit ihrem Sohn in Berlin. Im Schlusswort der deutschen Übersetzung ihres Buches schreibt sie:

„Eine Religion, eine Gemeinschaft und eine Familie zu verlassen, hat einen hohen Preis. Ich musste lernen, Ruhe zu finden, selbst im Angesicht von Hass und Beschimpfungen aus meiner ehemaligen Gemeinschaft. Ich zog mich schließlich auf dieselben Hilfsquellen zurück, auf die ich auch als Kind angewiesen war. Ich las Bücher, und die Geschichten dienten mir als Nahrung, die mir half, durch diese harten Zeiten zu kommen. Einige Jahre nach meiner Scheidung zog ich nach Berlin. Für jemanden wie mich, einem wurzellosen Wanderer, der nirgends richtig hin passte, fühlte sich Berlin wie der richtige Ort an, und wirklich: Diese Stadt ist ein Zuhause für diejenigen, die keines haben. Ein Ort, an dem sogar diejenigen Wurzeln schlagen, die scheinbar keine entwickeln können.

Ich habe hier Freunde und Angehörige gefunden, die jene ersetzen, die ich verloren habe. Ich fühle mich jetzt geliebt und geschätzt, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Ich verstehe mich immer noch als Jüdin, denn dies ist mein kulturelles Erbe, aber ich bekomme vom Judaismus nicht besonders viel spirituelle Nahrung. Aber ich habe meinen Platz in der Welt gefunden und bin wider aller Wahrscheinlichkeit in das Land zurückgekehrt, aus dem meine Familie so brutal hinausgeworfen wurde, und ich habe schließlich mein wahres Zuhause zurückerobert. Die Menschen wollen wissen, ob wir Glück gefunden haben, doch was wir gefunden haben ist besser: Authentizität – ich bin frei, ich selbst zu sein und das fühlt sich gut an!


Wenn irgendwer jemals versuchen sollte, Dir vorzuschreiben, etwas zu sein, was Du nicht bist, dann hoffe ich, dass auch Du den Mut findest, lautstark dagegen anzugehen“.


Eindrucksvoller lässt sich nicht zum Ausdruck bringen, worin der Sinn eines menschlichen Lebens besteht und welche Bedeutung dabei der jüdisch-christliche Gott haben kann, der einen jeden Menschen frei erschafft, ihn liebt und ihm einen je eigenen Weg gehen will.

 

Eine dezidierte christliche Sinnsuche


Eine weitere literarische Entdeckung dieses Jahres hat mich in besonderer Weise beeindruckt. Der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère veröffentlichte in deutscher Übersetzung eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem Christentum. „Das Reich Gottes“ landete sogar auf der Bestenliste der Leipziger Buchmesse. (Carrère, Emmanuel: Das Reich Gottes. Berlin 2016. Daraus stammen die folgenden Zitate.) Carrère begibt sich auf die Fährte von Paulus und Lukas und beschreibt, wie es damals wohl wirklich gewesen sein könnte, am Anfang der Geschichte des Christentums. Eingerahmt ist diese Spurensuche in die persönliche Glaubensgeschichte von Emmanuel Carrère. Er war noch vor wenigen Jahrzehnten ein tiefgläubiger Katholik. Humorvoll schildert er, wie es dazu kam – und wie er den Glauben schließlich wieder verlor. Rückblickend schämt er sich geradezu für die Naivität, mit der er seinerzeit geglaubt hat. Dennoch lässt ihn die Faszination des christlichen Glaubens nicht los:

„Wenn man darüber nachdenkt, ist es eigenartig, dass normale, intelligente Leute an etwas so Unsinniges wie christliche Religion glauben. An etwas, was in dieselbe Kategorie gehört wie die griechische Mythologie oder Märchen. Gut, in früheren Zeiten waren die Leute abergläubisch, die Wissenschaft zählte nicht, aber heute! Wenn heute jemand an Geschichten von Göttern glaubte, die sich in Schwäne verwandeln, um Sterbliche zu verführen oder an Prinzessinnen, die Frösche küssen und damit zu Traumprinzen werden lassen, würde doch jeder sagen, der ist verrückt.

Und doch glauben eine ganze Menge Leute an eine genauso irre Geschichte und die werden nicht für verrückt erklärt. Selbst wenn man ihren Glauben nicht teilt, nimmt man sie ernst. Sie haben eine soziale Funktion, die vielleicht weniger wichtig ist als früher, aber die insgesamt eher positiv bewertet und respektiert wird. Sie leben ihre Schrulle und verfolgen gleichzeitig absolut vernünftige Tätigkeiten. Selbst die Präsidenten der Republik statten ihrem Oberhaupt ehrfürchtige Besuche ab. Das ist doch seltsam, oder?“


Carrère glaubt nicht mehr – jedenfalls behauptet er das. Fasziniert staunt er aber darüber, dass nach wie vor unzählige Menschen den christlichen Glauben ernst nehmen:


„Wenn sie in die Kirche gehen, sprechen sie das Glaubensbekenntnis, in dem jeder Satz den gesunden Menschenverstand beleidigt, und sie sprechen es in ihrer Muttersprache, die sie doch wohl verstehen. Man kann die Sache locker nehmen und meinen, diese Leute glauben ja gar nicht daran. Nicht mehr als an den Weihnachtsmann. Es gehört einfach zum Erbe, zu schönen Jahrhunderte alten Bräuchen, an denen sie hängen. Indem sie sie weiterpflegen, behaupten sie, eine Beziehung zu der Geisteshaltung zu bewahren, aus der die Kathedralen und die Musik von Bach erwachsen sind und auf die man Grund hat, stolz zu sein. (…)

Trotzdem: Unter den Gläubigen muss es neben denen, die sich von der Musik der Worte einlullen lassen, ohne sich um den Inhalt zu scheren, auch welche geben, die diese mit Überzeugung und in Kenntnis der Sachlage aussprechen und darüber nachgedacht haben. Wenn man sie danach fragt, antworten sie, sie glauben wirklich, dass vor zweitausend Jahren ein Jude von einer Jungfrau geboren wurde, drei Tage nach seiner Kreuzigung auferstand und wiederkommen wird, um die Lebenden und die Toten zu richten. Sie antworten, diese Ereignisse seien zentral für ihr ganzes Leben. Ja, das ist allerdings seltsam.“


Carrère setzt sich deshalb mit den Inhalten des Christentums auseinander. Er beschäftigt sich mit Paulus und Lukas, vertieft sich in das Evangelium, geht historischen Erkenntnissen nach und lässt gleichzeitig auch seinen Phantasien freien Lauf, in dem er sich in die Gestalten des Urchristentums hineinversetzt. Er führt eine intensive existenzielle Auseinandersetzung mit den Grundlagen des christlichen Glaubens, um herauszufinden, wie tragfähig diese Grundlagen sind und worin die Faszination besteht, die das Christentum bis heute lebendig gehalten hat.

Am Ende seines Buches gibt es keineswegs ein „Happy End“, das Carrère zum Glauben an den christlichen Gott zurückführt. Aber es bleibt auch nicht bei einem atheistischen Bekenntnis. Emmanuel Carrère beschreibt am Ende seines Buches einen Besuch in einer Archè-Gemeinschaft, in der auf christlicher Grundlage Behinderte und Nichtbehinderte Menschen zusammen leben. Eine Gruppe Behinderter singt aus tiefster Begeisterung ein Loblied auf Gott; sie singen, tanzen und ziehen auch Carrère mit hinein in das begeisternde religiöse Geschehen. In diesem Moment, gibt Carrère zu, „steigen mir Tränen in die Augen und ich muss wohl oder übel zugeben, dass ich an diesem Tag einen Augenblick lang flüchtig erahnt habe, was das Reich Gottes ist.“

Sein Werk beschließt er wenig später mit folgenden eindrucksvollen Worten:
„Das Buch, das ich hiermit beende, habe ich in aller Aufrichtigkeit geschrieben, aber was es näherzubringen versucht, ist so viel größer als ich, dass diese Aufrichtigkeit - ich weiß es - lächerlich ist. Ich habe es mit der Bürde dessen geschrieben, was ich bin: Ein Schlauer, ein Reicher, einer aus der Oberschicht – zu viele Handicaps, um ins Reich Gottes zu gelangen. Trotzdem, ich habe es versucht, und in diesem Moment, da ich das Buch verfasst habe, frage ich mich, ob es den jungen Mann, der ich einmal war und den Herrn, an den er geglaubt hat, verrät, oder ob er beiden auf seine Weise treu geblieben ist. Ich weiß es nicht.“

Bemerkenswert an diesem Buch ist, dass jemand, der sich vom Bekenntnis zum christlichen Glauben verabschiedet hat, dennoch eine Faszination empfindet, die ihn in eine intensive Auseinandersetzung mit dem Kern und den Ursprüngen des Christentums führt. Damit legt er offen, was innerhalb unserer Kirche weitgehend fehlt: Ein intensives, persönliches und existentielles Ringen um den christlichen Glauben, eine Auseinandersetzung mit der Frage, was es denn eigentlich ist, worauf Christen ihr Leben bauen.


Carrère legt offen, unter welcher dramatischen Sprachlosigkeit wir innerhalb unserer Kirche leiden – und er zeigt einen Weg, wie diese Sprachlosigkeit überwunden werden kann.


 

Eine erstaunliche biblische Erinnerung


Eine wunderbare Entdeckung habe schließlich in dem gerade preisgekrönten Buch von Bodo Kirchhoff gemacht. Er hat eine berührende Novelle geschrieben (Kirchhoff, Bodo: Widerfahrnis. Frankfurt 2016.), die mich in vielerlei Hinsicht sehr berührt hat. Er erzählt eine Geschichte von Liebe und Mitmenschlichkeit; und davon, wie sehr wir Menschen uns danach sehnen, davon leben – und sie doch immer wieder nur sehr bruchstückhaft verwirklichen können. „Widerfahrnis“, so der Titel der Novelle – ein Begriff, der schon fast religiös anmutet.

Julius Reither und Leonie Palm treffen an einem Abend aufeinander, zwei Menschen um die 60 Jahre alt, beide in gewisser Weise verletzt und enttäuscht vom Leben. Aber an diesem Abend, als sie aufeinander treffen, geschieht etwas mit ihnen. Sie riskieren etwas, brechen mit dem Auto auf und fahren gen Süden. Unterwegs brechen Lebenserinnerungen auf, Verletzungen, Enttäuschungen, verpasste Chancen, Schuld. Und gleichzeitig sind Hoffnung und Sehnsucht spürbar, doch noch einmal etwas zu wagen: Nähe, Vertrauen, in der Hoffnung auf Liebe. Das berührende Abenteuer der beiden Deutschen gerät beiläufig in Kontakt mit der gegenwärtigen Flüchtlingsdramatik. Zunächst nur in der Beobachtung von Flüchtlingen am Brenner und auf einem italienischen Parkplatz; dann, am vorläufigen Ziel der Reise auf Sizilien in einem konkreten fremdländischen Mädchen, das auch von Sehnsucht getrieben ist, von der Sehnsucht nach einer Liebe, die sich einfach nur in Mitmenschlichkeit zeigt.

Ich will auf den Verlauf er Novelle nicht weiter eingehen, sondern nur auf eine bemerkenswerte Szene gegen Ende des Buches verweisen. Reither hat sich an seiner Hand schwer verletzt, eine offene Wunde. Er sitzt in der abendlichen Dunkelheit am Hafen einer italienischen Stadt gegenüber der Insel Sizilien. Da kommt ein Afrikaner aus Nigeria auf ihn zu und fragt in englischer Sprache, ob er helfen kann. Reither lässt es zu. Taylor, so heißt der Afrikaner, säubert und näht die Wunde mit notdürftigem Verbandszeug, das er in einer Kiste bei sich trägt. Als Reither ihn fragt, ob er Arzt sei, lacht Taylor. Nein, er ist Fischer. Und Fischer wissen halt, was sie auf Reisen unbedingt dabei haben müssen – vor allem auf einer so langen und ungewissen Reise, wie die Flucht aus Afrika ins ferne Europa eine ist.

Wenig später wird klar, dass Taylor nicht allein unterwegs ist. Nicht weit entfernt, im Schutz eines Containers, sitzt seine Frau mit ihrem Kind, ein Mädchen, offensichtlich unterwegs auf der Flucht geboren. Und folgen in der Novelle diese Zeilen:

„Reither kam einfach nicht umhin, auf diesem verlassenen Platz mit den schwärzlichen Treppenstufen zum Wasser, der Meerenge, ein biblisches Bild aus Kinderzeiten zu sehen, auch wenn in der Decke ein Mädchen lag, kein erstgeborener Sohn, und Taylor ein Fischer war, kein Zimmermann; und er kam auch nicht umhin, diesen Fischer zu beneiden, was ja absurd war, kaum zu glauben, ein Gefühl, das er so noch nie erlebt hatte – seine Bekannten mit Ehe und Kinderglück, die Kleinen dumpf vor dem Smartphone am Esstisch, da hatte sich nichts gerührt in ihm, aber diesen jungen Mann auf der Flucht, den beneidete er um sein Leben ohne Dach und Bett, ohne Konto und ohne Fürsprache, mit nichts in der Hand außer Frau und Tochter und dem eigenen Mut.“

Ich frage mich: Warum gelingt es uns in unserer Kirche eigentlich nicht, solche großartigen Sprachbilder zu schaffen, bei denen mit wenigen Sätzen das Evangelium in einer Weise mit unserer Gegenwart verbunden wird, dass es einfach berührt und aufrüttelt. Diese kurze Szene ist eine grandiose „Predigt“, die das Evangelium in die aktuelle Wirklichkeit transportiert – mitten hinein in die oft erbittert geführten Diskussionen um die „Flüchtlingskrise“, mitten hinein in die Debatten um das vermeintlich „christliche Abendland“, das manche zu schützen glauben, in dem sie alles Fremde abwehren – und gar nicht ahnen, was das Fremde uns lehren könnte.

 

Folgerungen und Einschätzungen


Die Beschäftigung mit den Botschaften aus der aktuellen Literatur macht deutlich, dass nicht die Fragen der kirchlichen Institution und ihrer Strukturen für die Zukunft des Christentums entscheidend sind, sondern vielmehr die tiefen existentiellen Fragen der Menschen. Es gibt viele Fragen, die sich menschlich, gesellschaftlich und auch politisch nicht beantworten lassen, ohne dabei einen Bezug zu einer transzendenten Dimension zu suchen. Im Raum der Kirche finden solche Auseinandersetzungen allerdings kaum statt. Im Gegenteil: Menschen, die geistlich, philosophisch, religiös und insgesamt existentiell auf der Suche sind, wenden sich offensichtlich an andere Orte – die Literatur ist hier nur ein Ort unter vielen anderen.

Eine immer größere Zahl von Menschen – und zwar auch unter den Kirchensteuerzahlern - hat keine Verbindung mehr zur Kirche als Organisation, und auch nicht zur Gemeinde vor Ort. Die Bindung der Kirchenmitglieder wird immer schwächer und damit ist die Gefahr groß, dass in den kommenden Jahren die finanziellen Einbußen bei den Kirchensteuern immer größer werden. Erschreckend ist dabei, wie wenig die große Distanz überhaupt wahrgenommen wird, die zwischen unserer binnenkirchlichen Welt und weiten Teilen unserer Gesellschaft längst gewachsen ist. Wer Bücher liest, bekommt dies schonungslos vorgeführt.


In einer offenen, freiheitlichen und pluralen modernen Welt verlieren Religionen und Glaubensgemeinschaften an Akzeptanz und Relevanz, wenn sie an einem Denken beharrlich festhalten wollen, das mit dem modernen Freiheitsdenken nicht in Einklang steht.


Deborah Feldmann hat in ihrer Autobiographie eindrucksvoll beschrieben, dass zu einem würdevollen menschlichen Lebens die Befähigung und Ermöglichung von „Authentizität“ gehört. Damit ist gemeint, dass ein Mensch in Übereinstimmung mit seiner eigenen, inneren Person leben kann und darf – ohne dazu gezwungen zu werden, gegen das eigene Gewissen leben zu müssen. Für das Christentum und für jede christliche Kirche stellt sich daher eine radikale Herausforderung: Wie kann es gelingen, eine christliche Identität zu entwickeln und zu bewahren – und dabei gleichzeitig die Freiheit eines jeden Menschen zu achten? Im Zukunftsbild des Bistums Essen kommt diese Herausforderung im Begriff „vielfältig“ zum Ausdruck, der eine möglichst große und umfassende Pluralität ermöglichen will, um die Milieuverengungen in unserer Kirche aufzubrechen.


Es braucht innerkirchlich eine konsequente Hinwendung zu den inhaltlichen, spirituellen und theologischen Fragen. Es braucht Räume, in denen Menschen sich existentiell mit ihren Grundfragen des Lebens auseinandersetzen können und darüber mit dem christlichen Glaubens in Berührung kommen.


„Räume“ sind weit mehr als Kirchen- und Gemeinderäume – wie solche „Räume“ künftig aussehen können und welche Menschen vielleicht selbst als Personen „Raum“ bieten können – das ist eine der entscheidenden Fragen aller unserer kirchlichen Entwicklungsprozesse. Somit benötigen wir in unserer Kirche insgesamt einen Perspektivwechsel: Es geht nicht um die Frage, wie wir unsere Institutionen, Strukturen, Gruppen und Gemeinschaften erhalten, sichern und retten können!


Zuerst geht es um die Frage, wie möglichst viele Menschen in der Gegenwart und in der nahen Zukunft ihren eigenen Zugang zum christlichen Glauben finden können.


Dazu braucht es eine Antwort auf die Frage, was denn dieser Glaube eigentlich ist, was er Menschen „bringt“ und welche unersetzliche Bedeutung er für eine Gesellschaft hat. Die Auseinandersetzungen um diese Fragen werden dann auch zeigen können, welche äußeren Formen und Strukturen es für die Menschen braucht, die heute und morgen Christen sein wollen.

Was bedeutet das für Katholische Öffentliche Büchereien? Was muss geschehen, damit unsere Büchereien eine Zukunft haben? Ich bezweifle, ob das die wirklich wichtigen Fragen sind - genauso wenig, wie die Fragen nach der Zukunft unserer Institution, nach Vereinen und Verbänden, nach Kirchtürmen und Pfarrheimen von wirklich entscheidender Bedeutung sind.

Was allerdings Bücher betrifft, was die Literatur und die darin enthaltenen Worte, Sätze und Gedanken betrifft, so stellen sich mir sehr viele wichtige Fragen:

Wie gelingt es uns, den Schatz zu entdecken und zu nutzen, der in der Literatur verborgen ist? Wie schaffen wir es, in der Literatur die Themen wahrzunehmen, die die Menschen heute beschäftigen

– und die deshalb auch bei uns in der Kirche Raum haben müssen, die uns bewegen und auch verändern müssen? Wo sind die Orte, an denen Menschen miteinander lesen und darüber sprechen, was ihre Leseabenteuer an inneren Prozessen angestoßen haben oder noch anstoßen können? Wo fangen Christen an, sich den existentiellen Fragen zu stellen, sich auf das Suchen und Ringen einzulassen, auf das teilweise radikale Denken, das sich in Büchern zeigt? Wo reagieren wir Christen auf all das, was uns Bücher lehren, wo sie uns provozieren, wo sie vielleicht auch Widerspruch erfordern?

Wenn es uns gelingt, an den großen Fragen der Menschen „dran“ zu bleiben und gleichzeitig nach den Orientierungen, Impulsen und Antworten des christlichen Glaubens für die Fragen der Menschen von heute zu suchen – dann finden sich auch die äußeren Formen von Kirche, die für die kommenden Generationen wichtig sind. Bücher werden dabei eine wichtige Rolle spielen. Wie könnte das auch anders sein, wenn sich unser Gott selbst im Wort – gedacht, geschrieben, gesprochen und schließlich Fleisch geworden – zu erkennen gibt?