Vorstellung norwegischer Kinderliteratur

Von Julia Süßbrich

Tief berührend, literarisch und unterhaltsam
Kinder- und Jugendbücher aus Norwegen

 

Norwegen wird nicht nur Gastland der Frankfurter Buchmesse vom 16. bis 20. Oktober sein. Zehn bekannte und erfolgreiche Autorinnen und Autoren sowie Illustratoren von Kinder- und Jugendbüchern waren auch schon zwischen dem 10. und 31. Mai Gäste der Internationalen Kinder- und Jugendbuchwochen Köln 2019: Norwegen. Neben der SK Stiftung Kultur der Sparkasse KölnBonn und der Stadt Köln mit Kulturamt sowie Stadtbibliothek gehört das Erzbistum Köln mit seinem Referat Katholische Öffentliche Büchereien zu den Veranstaltern der Reihe aus zweisprachigen Lesungen, Filmprogramm, multimedialem KinderBuchKino, Ausstellung, Theater und mehr.

 

Bei einem vorausgehenden Fachvortrag und in ihrem Programmheftbeitrag wies Dr. Ines Galling von der Internationalen Jugendbibliothek bereits auf eine interessante Beobachtung hin: Auffällig viele norwegische Autorinnen und Autoren, sowohl erfahrene als auch neue, haben den Mut und bekommen die Chance, in ihren Büchern ästhetisch neue Wege zu beschreiten. Und sie können ihren jungen Lesern neben der Unterhaltung auch die literarische Beschäftigung mit durchaus ernsten Themen zumuten, ohne pädagogischen Fingerzeig. Außenseiter kommen in norwegischen Kinder- und Jugendbüchern recht häufig vor. Der Umgang mit Behinderungen, mit Krankheiten, mit Mobbing, mit dem Verlust von nahestehenden Menschen oder auch mit Gewalterfahrungen ist nicht selten zentrales Thema oder eines von mehreren Themen. Humor, träumerische oder spielerische Fantasie, Skurrilität, Action und Spannung spielen gleichzeitig eine große Rolle.

 

Stian Hole zum Beispiel, der für sein Bilderbuch Annas Himmel (Hanser, 2014) den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis bekam und in Köln auch sein Bilderbuch Morkels Alphabet (Hanser, 2016) vorstellte, erklärte den Kindern, wie er vorgeht: Für ihn bedeuten Lesen und Schreiben, sich auf Reisen zu begeben. Bibliotheken, in denen man so viele Bücher ausleihen kann, seien deshalb tolle Orte, sagte er bei seiner Lesung in einer Stadtteilbibliothek – und außerdem fühle man sich mit Büchern weniger einsam. Träume interessieren ihn, denn sie inspirieren ihn dazu, in seinen Bildern Naturgesetze außer Kraft zu setzen. Bei der Arbeit an seinen Büchern ist er frei: Wenn er zum Beispiel will, dass ein Elefant fliegen kann, dann kann er im Bild einen Elefanten fliegen lassen. Geschichtenerzählen hat in seinen Augen etwas mit Sammeln zu tun, er vergleicht es mit dem Zusammenstellen eines Blumenstraußes in einer Vase. So arbeitet er ein bis zwei Jahre an jedem Buch, bis seine kurzen, sprachlich einfachen und doch sehr aussagestarken Texte und seine bunten digitalen Collagen aus Fotos und Zeichnungen wirklich fertig sind. Den Kindern erklärte er die Arbeit mit Assoziationen, indem er sie fragte, was ihnen zu regnenden Erdbeeren einfiele und was zu regnenden Nägeln (wie es sie in „Annas Himmel“ gibt): weich und süß, aber Flecken machend fallen die Erdbeeren, schmerzhaft treffen die Nägel, befanden sie. Auch auf die Zusammenhänge zwischen Stimmungen in der Landschaft und Stimmungen der Figuren wies er die Kinder hin. Betrachtet man unter diesem Aspekt Morkels Alphabet, versteht man, was er meint: Morkel fehlt ständig in der Schule, schreibt sehr krakelig, ist ein wenig scheu – dazu passt die herbstliche und winterliche karge Landschaft. Die aufkeimende, vorsichtig angebahnte Freundschaft mit Anna erblüht, trotz Unterbrechung, im farbenfrohen Frühling. Holes Bücher sind ernst, aber auch träumerisch, sehr kunstvoll und positiv.

 

Øyvind Torseter

Øyvind Torseter, der letztes Jahr den Deutschen Jugend-Literaturpreis in der Sparte Bilderbuch gewann, stellte in Köln außer dem ausgezeichneten Buch Der siebente Bruder oder Das Herz im Marmeladenglas (Gerstenberg, 2017) auch sein neuestes Werk Hans sticht in See (Gerstenberg, 2019) vor. Auch er verknüpft in seinen Büchern durchaus ernste Themen mit munterer Fantasie. Der siebente Bruder basiert auf einem norwegischen Volksmärchen. Bei Torseter verwandelt ein Troll die sechs Brüder des Helden samt ihrer Prinzessinnen in Steine, und Hans muss einiges durchleiden, um sie zu retten. Der Humor des alten Gauls, auf dem Hans aufbricht, seine Brüder zu retten, ist jedoch ein ziemlich lockerer, so gar nicht märchenhaft, sondern eher trocken bis sarkastisch. Kinder und Erwachsene finden – vielleicht auf unterschiedlichen Ebenen – Möglichkeiten der Identifikation und Anlass zum Mitleiden, Schmunzeln, Gruseln und lauten Lachen.

Torseter erklärte, warum Hans nicht nur in diesen beiden Büchern vorkommt: Für jedes Buch sucht er immer zunächst nach der Hauptfigur, die er auch wirklich gerne mögen muss, weil er sie ja anschließend so häufig zeichnen muss. Da hat Hans sich bewährt (und er taugt auch zum Superhelden auf dem Flipchart, nach Detailwünschen der Kinder gezeichnet). Auf die Figur folgt in Torseters kreativem Prozess stets die Umgebung, und aus den Problemen, die er dabei lösen muss, ergeben sich Ideen für die Handlung der Geschichte.

 

Der Kölner Schauspieler Thomas Pelzer inszenierte zwei Bilderbücher von Elisabeth Helland (Text) und Marine Schneider (Illustrationen) als multimediales KinderBuchKino: Das Leben und ich – Eine Geschichte über den Tod (mixtvision, 2016) und Ein Leben mit dir (mixtvision, 2017). Der Tod und das Leben erzählen darin jeweils, wie und warum sie für alle Menschen und Tiere da sind und wie sie zusammengehören. Das Publikum aus Erst- und Zweitklässlern reagierte überraschend unbefangen und sehr interessiert.

 

Lustig und doch ernst

Maria Parr beschloss bereits als Teenager nach einem Referat über Astrid Lindgren, Autorin zu werden. Doch sie schreibt sehr langsam an ihren Büchern, und so hat sie erst drei Kinderromane veröffentlicht. Die haben es allerdings in sich: Ähnlich wie Lindgren und doch anders schreibt sie mit einer ihr eigenen Frische. Sie versteht es, witzige Ereignisse und tief rührende, einschneidende Erlebnisse so miteinander zu verknüpfen, dass sie ihren Lesern die volle Bandbreite des Lebens serviert, zum Lachen, zum Nachdenken und vielleicht auch gelegentlichen Weinen. Diesen Sommer erschien Manchmal kommt Glück in Gummistiefeln (Dressler, 2019), der Folgeband zu Waffelherzen an der Angel (Dressler, 2008/Oetinger Taschenbuch, 2011). Die Hauptfiguren Trille und Lena sind nun zwei Jahre älter, steuern auf die Pubertät zu und haben mit einigen Wellen nicht nur im Fjord zu kämpfen, sondern auch in ihrem sozialen Umfeld. Familienleben, Freundschaften und was sie im Dorf alles miterleben, das ist nicht immer leichte Kost, doch die beiden wachsen an ihren Aufgaben.

 

Gudrun Sketting

Auch im ersten Jugendroman der Konzertpianistin Gudrun Skretting, Mein Vater, das Kondom und andere nicht ganz dichte Sachen (Carlsen, 2017) gehen Tragik und Komik Hand in Hand: Antons Mutter ist schon lange tot, der Vater aber nicht neu liiert. Wie Anton und seine beste Freundin nun versuchen, ihm auf die Sprünge zu helfen, und was dabei zwischen Anton und Ine passiert, können Leserinnen und Leser lachend, mitfühlend, kichernd, fremdschämend, stirnrunzelnd und grinsend verfolgen. In Norwegen sind bereits zwei Folgebände erschienen, und auch als Theaterautorin ist Skretting aktiv. Sie hat das Schreiben am Norwegischen Kinderbuchinstitut studiert – und sie hat ein Lieblingsthema, das Jugendlichen bekannt vorkommen könnte: Peinliches. Lustig schreibt sie gern, aber sie mag es auch, wenn ein bisschen Ernst dabei ist.

 

Aufrüttelnd

Deutlich ernster und nachdenklicher hat die junge Schauspielerin Iben Akerlie ihren ersten Kinderroman angelegt, Lars, mein Freund (dtv Reihe Hanser, 2018). Besonders spannend an diesem Buch ist die Perspektive: Obwohl der neue Mitschüler Lars, der das Down-Syndrom hat, Anlass für das erzählte Geschehen und eine Hauptfigur ist, geht es viel und kritisch um die Ich-Erzählerin, um die Mitschüler, um die Lehrerin. Das Mädchen beobachtet aufmerksam die anderen und sich selbst. Es sitzt bald zwischen allen Stühlen, ertappt sich selbst bei unfairem Verhalten im Zusammenhang mit Cybermobbing und kommt nur schwer aus einer Verkettung von massiven Konfliktsituationen heraus. Akerlie gibt ihrer Leserschaft die Chance, die Unsicherheit und Überforderung, das Vertrauen und Misstrauen, Glück und Unglück der Figuren nachzuvollziehen, sich zu identifizieren und zu erschrecken, über komisch anmutende Situationen zu schmunzeln und doch mitzufühlen. Indem sie zeigt, was nicht gut läuft, rüttelt sie auf. Sie fragte die Kinder in der Lesung, wie sie sich an der Stelle der Ich-Erzählerin verhalten hätten, und ganz sicher fragen sich das auch viele junge und nicht mehr junge Menschen, während sie dieses Buch lesen. Wie stark sind wir? Sind wir immer so offen, nett und fair, wie wir es von uns selbst eigentlich erwarten? Würden wir uns nie an Mobbing beteiligen? Fällt Inklusion uns so leicht, wie wir es zunächst vermuten? Was für Freunde und Freundinnen sind wir?

 

Nancy Herz

Auf ganz andere Art gehen die drei jungen muslimischen Feministinnen Amina Bile, Nancy Herz und Sofia Nesrine Srour auf ihre jugendliche Leserschaft zu: Die drei Bloggerinnen lernten sich über soziale Medien kennen. Ein Verlag fragte sie, ob sie zusammen ein Buch über ihre Erfahrungen schreiben wollten, und unterstützte sie bei der Entwicklung des Konzeptes und der Aufbereitung des Materials. Schamlos (Gabriel, 2019) enthält Mitschriften von gemeinsamen Unterhaltungen, eigene Texte und Zuschriften von anderen jungen Frauen, oft gehörte Sprüche und Ratschläge von anderen, Forderungen und Versprechen der Autorinnen. Das Layout ist zwar überwiegend in Weiß und Rosa gehalten, doch Illustrationen, Autorinnen-Fotos und die Inhalte widersprechen dem Klischee vom Mädchenrosa. Es geht um starke junge Frauen. Nancy Herz und Sofia Nesrine Srour sprachen in Köln über negative Erfahrungen, die ihre Kindheit und Jugend prägten: einengende, verunsichernde soziale Kontrolle innerhalb der Familie, Mobbing und Rassismus in der Schule. Sie lachten aber auch viel und führten vor, wie absurd viele gut gemeinte Ratschläge „für ehrbare Mädchen“ sind, die sie in ihrem Buch aufgegriffen haben („Iss keine Banane in der Öffentlichkeit“...). Aufklärungsarbeit wollen sie leisten, damit mehr junge Menschen sich entfalten und zu sich selbst stehen können – indem sie sich als Betroffene gegen ungesunde Formen sozialer Kontrolle auflehnen oder als Mitmenschen achtsamer gegenüber Betroffenen verhalten.

 

Die Jugendromane Unendlich mal unendlich mal mehr (Thienemann, 2018) von Ingrid Ovedie Volden und Zweet (mixtvision, 2017) von Marit Kaldhol handeln ebenfalls von Fragen der Ausgrenzung junger Menschen und dem Umgang damit. Ihnen wohnt ein großer Ernst inne, sie konfrontieren die Leserinnen und Leser mit Tragik, mit Krankheit, mit Dingen, die sich nicht einfach so in ein glückliches Ende hinein auflösen. Ob man an der ein oder anderen Stelle über die Figuren im Fokus dennoch ein wenig lächelt, wie viel man über sie rätselt, welche Assoziationen sie wecken, wie tief die Lektüre einen rührt, mag eine Frage der eigenen Lebenserfahrung, Lesebiografie, des Charakters und der Herzensbildung sein. Dass das Lesen von packenden literarischen Romanen die Empathie fördert und den Blick auf andere Menschen öffnet, wird aufmerksamen Lerinnen und Lesern dieser Romane jedoch recht sicher auffallen, auch wenn sie selbst noch jung sind.

 

Selbst der Held von Bobbie Peers' fantastischer Abenteuerserie William Wenton ist zunächst ein Außenseiter. Er wächst im Laufe der Handlung über sich hinaus. Peers, von Haus aus Regisseur und Drehbuchautor, ist „überzeugt, dass es wichtig ist, jungen Menschen zu zeigen, dass es erlaubt ist, anders zu sein“. Gleichzeitig achtet er auf Dynamik, Schnelligkeit und Spannung.

Harald Rosenløw Eeg

Und auch Harald Rosenløw Eeg verknüpft in Aber raus bist du noch lange nicht das Genre des Thrillers mit der Darstellung von Außenseitern. Er erzählte in Köln, für ihn seien Außenseiter und Außenseiterinnen deshalb ein so spannendes Thema, weil sie zum Alltag gehören: Jeder hat damit zu tun, ist es entweder selbst auf eine Weise hat Angst, es zu werden. Wie eine Gesellschaft tickt, ergründet der Autor gern beim Schreiben über Außenseiterfiguren.

 

Wenn Literatur für Kinder und Jugendliche also genauso wie Erwachsenenliteratur ihre Leserinnen und Leser packen, mitreißen, unterhalten und innerlich wachsen lassen soll, dann lohnt es sehr, sich mit norwegischer Kinder- und Jugendliteratur zu befassen und die diesjährigen Gastlandauftritte der Norweger voll auszukosten.

 

Julia Süßbrich, Fotos: © Janet Sinica

Internationale Kinder- und Jugendbuchwochen Köln: www.kibuwo-koeln.de