Vorfreude auf den Bücherfrühling
Picknick mit Neuerscheinungen
Johannes Schröer
„Vielleicht gibt es etwas gemeinsam Geheimes, das uns verbindet, ohne dass es offen in den Herzen liegt“, sagt Thomas von Aquin zu Stan Laurel im Roman ‚Picknick im Dunkeln‘ von Markus Orths (Borromäus-Roman des Monats März). Das ist gewagt, aber ein Autor kann sich jede Freiheit nehmen, auch die Freiheit, den Magier des Lachens Stan Laurel, auf den Heiligen Thomas treffen zu lassen, den stummen Ochsen oder das wandelnde Weinfass, wie Aquin auch genannt wurde. Die beiden begegnen sich in einem Zeittropfen, überschreiten also alle herkömmlichen Kategorien von Raum und Zeit, auch das kann Literatur und sie fragen sich, ob es eine andere Wahrheit als die Wahrheit des Todes gibt und wie die aussehen könnte. Ein herrliches Spiel über den Sinn und Unsinn des Lebens, über Gott und über das Lachen. Ende Januar erscheint dieser kühne Roman im Hanser Verlag und ich bin neugierig auf die Resonanz, den diese flotte Begegnung zwischen der alten religiösen und der neuen säkularen Welt auslösen wird.
Als Domradio-Literaturredakteur genieße ich einen wunderbaren Luxus. Ich darf in die Zukunft schauen, ich darf Bücher lesen, die noch gar nicht erschienen sind. Aus den Vorschaukatalogen habe ich einige Roman vorgemerkt und die Verlage um Leseexemplare gebeten, die ich nun vorkoste (medienprofile-Rezensionen - soweit schon vorhanden - siehe unten). Eine Begegnung zwischen einem Komiker und einem der wichtigsten Theologen der Geschichte gehört natürlich dazu. Aber nicht nur hier begegnen sich Literatur und Theologie. Viele Autoren loten auch im kommenden Frühling existentielle Themen aus und fragen, welche Plausibilität Gott heute noch hat? „Wenn jemand nur sagt, er sei religiös, geht mir das auf die Nerven“, hat Peter Handke in einem Interview gesagt, “wenn er nicht erzählt, was das ist“. Und genau darum geht es in vielen Romanen, was bedeutet der Glaube an Gott für den modernen Menschen. ‚Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte‘, heißt der neue Roman von Literaturnobelpreisträger Handke, der Mitte Februar bei Suhrkamp erscheint. Wie häufig bei Handke bricht auch hier ein Romanheld auf – in den Osterferien macht er sich auf den Weg. „Ich hatte keinerlei Plan ausgeheckt“, heißt es in dem Buch. „Es hatte zu geschehen. Andererseits: Es gab ihn, den einen Plan. Aber dieser Plan ist nicht mein eigener“. Typisch Handke, der nach größeren Zusammenhängen sucht, auf die er sich über das Persönliche hinaus beziehen kann. Noch habe ich das Buch nicht gelesen, bin aber gespannt auf seinen Osterspaziergang.
Ob Sybille Lewitscharoff oder Christian Lehnert, bekennende Christen, die Romane oder Gedichte schreiben, gibt es im Suhrkamp Verlag viele. Ihre Romane verhandeln Themen, die mit Gott und Glauben zu tun haben. Dazu zählt auch Anna Katharina Hahn, die man sicher nicht als katholische Autorin vereinnahmen kann, obwohl sie sich zum katholischen Glauben bekennt. In ihren Romanen schickt die Autorin ihre Helden häufig durch das Fegefeuer des familiären Scheiterns. Auch in dem Buch ‚Aus und davon‘ verliert die Romanheldin Elisabeth die Kontrolle über ihr Leben. Sie sucht nach einem Halt. Dabei geht es auch um Kommunikation und um Sprachlosigkeit. Räumliche Entfernungen - sogar zwischen Kontinenten - scheinen per Whatsapp ohne Probleme überbrückbar zu sein, doch was nützt das, wenn sich die Generationen nicht mehr verstehen. Hier geht es um die Suche nach Liebe und Nähe im digitalen Zeitalter. Gott bleibt eine Leerstelle. Was tröstet die Menschen im 21. Jahrhundert?, fragt Anna Katharina Hahn.
Mit dem Abglanz einer Hoffnung beschäftigt sich auch der Literaturnobelpreisträger J.M.Coetzee. Ende Januar erscheint der dritte Teil seiner ‚Jesus-Trilogie‘ mit dem Titel ‚Der Tod Jesu‘. David, der Romanheld, zieht sich aus dem Leben zurück. Es gibt keine Hoffnung für ihn. Damit knüpft Coetzee an die Tradition der großen Zweifler und auch Kritiker von Religion und Glaube in der Literatur an. Der Glaube an Gott ist hier eine Illusion, die verloren ist und wenn überhaupt nur noch in weiter Ferne leuchtet. Andere Autoren holen den Glauben an einen christlichen Gott auf die Bühne des Lebens und fragen fast spielerisch, was er uns heute noch zu sagen hat. Das tut der schon erwähnte Markus Orths in ‚Picknick im Dunkeln‘ oder auch Martin Walser in seinem Roman „Mädchenleben oder die Heiligsprechung. Legende“ und immer wieder auch Navid Kermani, der ein Buch mit Texten von Friedrich Hölderlin herausgibt. „Wo aber Gott noch auch erscheint. / Da ist noch andere Klarheit“, schreibt Hölderlin in seinem Gedicht „Friedensfeier“. Anlass ist der 250. Geburtstag des Dichters in 2020. ‚Bald sind wir Gesang‘, heißt die spannende Auswahl von Hölderlin Texten im C.H. Beck Verlag. Fremd scheinen uns viele Zeilen – und dann wieder ganz nah. Das ist die Spannung, die wir häufig auch in religiösen Ritualen erleben können und die etwas Faszinierendes hat, weil wir spüren können, dass die großen Fragen des Lebens zeitlos sind.
Wo wir schon bei den Geburtstagen großer Geister im kommenden Jahr sind. Paul Celan wird 100 Jahre. Er ist übrigens im gleichen Jahr geboren wie Papst Johannes Paul II. Besonders gespannt bin ich auf das Buch von Michael Eskin ‚Schwerer werden. Leichter sein‘. Eskin hat prominente Autorinnen und Autoren wie Durs Grünbein oder Ulrike Draesner zu Gesprächen über Celan eingeladen. Sie alle verbindet etwas mit dem großen Poeten.
Und dann wird Uwe Timm in diesem Jahr 80 Jahre alt. Ein Autor, der mich die vergangenen Jahrzehnte begleitet hat und den zeit seines Lebens Utopien beschäftigt haben. ‚Über Utopien und Literatur‘ lautet der Untertitel des Buches ‚Der Verrückte in den Dünen‘. Darin fragt Timm nach der Kraft, die utopische Gedanken haben. Timm beleuchtet utopische und dystopische Momente in Klassikern der Weltliteratur. Er erzählt von persönlichen Begegnungen, von einer Reise nach Paraguay und von Gesprächen mit Graffitikünstlern. Utopien setzen die Kraft der Wünsche frei, sagt Timm, und somit die Kraft für die Zukunft.
Fragen der Zukunft, das sind auch Fragen, die mit Politik zu tun haben. In vielen Romanen des Frühlings vermischen sich Politik und Poesie. Ingo Schulze erzählt in ‚Die rechtschaffenen Mörder‘ von einem Buchhändler in Dresden, der sich fremdenfeindlich radikalisiert. Oder ist das alles nur ein Irrtum? Und der Buchhändler Paulini eine tragische Figur?
Auch der Glaube an die Veränderbarkeit der Welt ist ein Glaube, der viele Autoren antreibt. John von Düffel nimmt uns in seinem neuen Roman ‚Der brennende See‘ mit zu den jungen Aktivisten der ‚Fridays for Future‘ Bewegung. Die mittlere Generation scheitert privat und politisch. Sie läuft leer – hat sich aufgegeben, an Affären gewöhnt, die Enttäuschungen werden mit Alkohol und Konsum betäubt. „Die letzte Wolke ist ein großer Rauch, nicht Wasser, sondern Staub“, schreibt von Düffel. In seinem Roman bedroht eine große Dürre das Land. Die Wolken sterben – der Himmel wird zusehends eine Wüste. Dabei seien Wolken viel mehr als nur Wasserdampf, ist die 16jährige Julia überzeugt. Sie ist fasziniert von Wolken, von Wolkenschiffen, Wolkentürmen, Wolkentieren. Wie können wir die katastrophalen Folgen des drohenden Klimawandels so imaginieren, dass wir endlich konsequent handeln – und die Welt vor dem zerstörerischen Raubbau durch die Menschen bewahren? John von Düffel versucht in seinem Roman, die verheerenden Verluste in Worte zu fassen, die der Klimawandel durch die massiven Veränderungen in der Natur auslöst. Am Ende bringt Julia ihrem Vater bei, wie man schwimmt, wie man oben bleibt – und nicht ertrinkt.
Väter und Kinder, Generationenkonflikte – ein Thema, das auch den Buchpreisgewinner Frank Witzel immer wieder neu beschäftigt. Sein großes Forschungsfeld ist die Nachkriegsgeneration. In seinem neuen Roman ‚Inniger Schiffbruch‘ erinnert sich der Autor an seinen verstorbenen Vater. Er ordnet den Nachlass und fragt nach dem Wahrheitsgehalt seiner eigenen Erinnerungen. Dabei legt er die inszenierten Fotos aus dem Familienalbum zur Seite und schaut sich die aussortierten Bilder genauer an. Die unscharfe Hausfrau in der Kittelschürze. Die missglückten Fotos vom klar strukturierten Familiensonntag. Witzel ist streng katholisch in der Diaspora aufgewachsen. Er bezeichnet sich selbst als einen evangelischen Katholiken, weil seine Familie es noch besser machen wollte und noch besser glauben wollte, als die evangelische Mehrheit. In seiner Kindheit erlebte er einen Katholizismus, der alles überwacht und kontrolliert, der nicht befreiend wirkt, sondern Angst macht.
Josef Haslinger hat diesen Katholizismus der 50er und 60er Jahre in seiner schlimmsten Pervertierung erlebt. In seinem Buch ‚Der Fall‘, das Ende Januar bei S. Fischer erscheint, erzählt der Schriftsteller seine Missbrauchsgeschichte im Sängerknabenkonvikt Stift Zwettl. „Meine Eltern hatten mich der Gemeinschaft der Patres anvertraut, weil mich dort das Beste, das selbst sie mir nicht geben konnten, erwarten würde. Ich habe sie heimlich oft verflucht, weil sie mich nicht darauf vorbereitet hatten, was das Beste sei … “, schreibt Haslinger. Josef Haslinger ist ein renommierter Autor. Er erzählt nüchtern reflektierend, wie Glaube, Liebe und Vertrauen brutal missbraucht werde, um Kinder zu quälen. Nach der Lektüre wird keiner sagen können, das habe mit den Strukturen der katholischen Kirche, die diesen Missbrauch ermöglichten, nichts zu tun gehabt. Wie kann Kirche funktionieren? Wie kann sie den Menschen helfen, sie unterstützen, sie trösten? Wie kann sie für die Schwachen da sein? Davon erzählt Pfarrer Franz Meurer in seinem Buch ‚Glaube, Gott und Currywurst‘, das Mitte März im Herder Verlag erscheint. Franz Meurer ist ein Priester, der für die Menschen auf der Straße da ist. „Weil uns alles geschenkt ist, wollen wir in unserem Viertel auch großzügig sein. Mit Pommes und Würstchen. Mit Liedern und Gottesdienst. Mit dem, was Menschen mögen,“ schreibt Meurer.
Und dann beginnt der Sommer. „Die wärmere, die kurze Jahreszeit“, dichtet Uwe Kolbe in seinem neuen Lyrikband über die Natur und den Himmel. „Du spürst das Jagen der Planeten nicht, er trägt dich eine Weile“. Nach seiner Wiederentdeckung der ‚Psalmen‘ schickt Kolbe ähnlich wie Peter Handke in ‚Das zweite Schwert‘ einen Wanderer auf die Reise, der die Vögel am Himmel besingt – in einer leichten Sprache, die allen Eifer und Zorn hinter sich läßt.
So freue ich mich auf den Bücherfrühling und Büchersommer und auf viele Neuentdeckungen und denke häufig: Vielleicht sind Autoren heute die viel besseren Theologen.
Johannes Schröer ist Autor und stellvertretender Chefredakteur bei domradio.de