Tagebuchkultur

Tagebuchkultur

„Liebe Kitty! Es ist eine Menge passiert…“

Was haben Kurt Cobain, Astrid Lindgren, Virginia Woolf und Franz Kafka gemeinsam? Vielleicht haben Sie schon eine Ahnung, mit Sicherheit aber Gewissheit, wenn ich den Namen Anne Frank in dieser Aufreihung ebenfalls erwähne. Sie alle gehören zu der Gruppe berühmter Tagebuchschreiber und diese Liste könnte ich so endlos fortführen.
Auch heute noch, im Jahr 2021, führen viele Menschen ein Tagebuch. Die Variationen, wie man die Erinnerungskultur pflegen kann, sind mit der Zeit jedoch vielfältiger geworden.

Am 12. Juni ist der Tag des Tagebuchs, zum Gedenken Anne Franks, die am 12. Juni 1929 als Kind jüdischer Eltern in Frankfurt am Main geboren wurde und eines der berühmtesten Tagebücher der Welt verfasste. Durch ihr Tagebuch, in welchem sie vor allem Briefe an Kitty schrieb, erfuhren Millionen Leser weltweit, wie sich Anne und ihre Familie vor den Nazis verstecken mussten. Kitty, um das an dieser Stelle noch zu erwähnen, ist eine fiktive Figur, die in einer Buchreihe der Schriftstellerin Cissy van Marxveldt auftaucht und deren Lektüre Anne las, noch bevor die Familie untertauchen musste.  
Annes Tagebuch ist ein Zeitdokument, eine Erinnerung und die persönliche Sicht eines Mädchens, das nicht sehr alt werden durfte. In ihrem Tagebuch, welches im Jahr 2009 von der UNESCO in die Liste des Weltdokumentenerbes aufgenommen wurde, schreibt Anne sowohl Erlebnisse als auch Gefühle nieder. Es ist die narrative Form für das eigene Leben.

Weshalb schreiben wir Tagebücher?

„Das Führen eines Tagebuches ist eine der wenigen Tätigkeiten, die in der Gegenwart stattfindet, uns über die Vergangenheit nachdenken lässt, um schließlich unsere Aufmerksamkeit auf unser zukünftiges Selbst zu richten“, sagt Alexandra Johnson, die sich in ihrem Buch „Wie aus dem Leben Geschichten entstehen. Vom Tagebuch zum kreativen Schreiben“ mit dem Phänomen der Tagebuchkultur auseinandergesetzt hat.
Wenn wir den Stift ansetzen, um einen Tagebucheintrag zu verfassen, hinterlassen wir auch immer eine Spur hin zu unseren Gedanken und Gefühlen. Eine Fährte für andere, aber in erster Linie auch für uns selbst.
Schon Franz Kafka sagte über das Schreiben: „Schreiben ist die Axt, die das gefrorene Meer von innen aufbricht.“ Kafka entdeckte in seinen aufgeschriebenen Worten eine unendliche Fülle, das, was seit langem unter dem symbolisch gesprochenen Eis verborgen liegt.
Auch die amerikanische Schriftstellerin Gail Godwin sah im Tagebuchschreiben ein Werkzeug um sich selbst etwas zu erzählen, was sie vorher so noch gar nicht wusste. Man setzt also in der Vergangenheit an, um in der Gegenwart zu erfahren, wohin die Reise in der Zukunft führen könnte.

Und nicht nur inhaltlich können wir viel vom geschriebenen Wort ableiten: Veränderungen, die den Schreibstil betreffen oder die Schrift an sich, die mal größer, dann wieder kleiner erscheint, lassen Rückschlüsse auf die Gefühlslage des Verfassers zu. Ein Eintrag kann ausführlich und bis ins kleinste Detail verfasst sein, dann wiederum bestechen einzelne Schlagworte die Buchseiten.
Die Kunst, die eigene Geschichte zu erkennen und Spuren in ihr zu finden, ist für viele Menschen ein Antrieb, sich mit dem Schreiben und damit auch mit sich selbst auseinanderzusetzen. Und nicht nur das. Sich schriftlich auszudrücken, führt zu einer Sortierung der Gedanken, es ist das persönlichste Gespräch mit sich selbst. Das Schreibtempo wird eigens bestimmt, man kann jederzeit an eine gewisse Stelle zurückspringen und genauer hinschauen.
Apropos springen, für viele Schriftsteller:innen war diese Art der Gedankenverarbeitung auch oftmals einer der ersten Schritte ins kreative Schreiben, quasi das „Sprungbrett zur schöpferischen Schreibtätigkeit“.
Die britische Schriftstellerin Virginia Woolf führte beispielsweise bis 4 Tage vor ihrem eigenen Tod (im Alter von 60 Jahren) ein Tagebuch. In ihrem Leben hatte sie insgesamt über 32 Bücher mit ihren Gedanken, Ideen und Gefühlen gefüllt und diese auch immer wieder als Inspirationsquelle für weitere Texte genutzt.
 

Wie führt man es denn nun richtig? – Möglichkeiten über Möglichkeiten

Henry David Thoreau, amerikanischer Schriftsteller und Philosoph, beschrieb oftmals Birkenbaumrinde mit Bleistift, um seine in der Wildnis auftretenden Gedanken nicht zu verlieren.  Dieses Beispiel zeigt, dass die Form eines Tagebuchs nicht klassisch gebunden und liniert sein muss. Einkaufszettel, Servietten, alles was beschreibbar ist, kann zweckentfremdet werden, um die flüchtigen Geistesblitze nicht vorbeiziehen zu lassen.
Heutzutage gibt es die vielgenutzte Möglichkeit elektronisch, z.B. durch das Handy, Ideen festzuhalten. Im Internet ist fast alles möglich, so natürlich auch das Schreiben eines Internet-Tagebuchs, also das Führen eines klassischen Blogs. Im Jahr 2020 gab es weltweit über 500 Millionen Blogs mit jährlich circa zwei Billionen Blog-Einträgen zu Themen wie Sport und Fitness, Politik, Essen, Kultur oder Lifestyle. Die Blogosphäre, so nennt man die Gesamtheit aller Blogs, wächst von Jahr zu Jahr, ein Ende ist nicht in Sicht.

Und wie oft sollte man etwas aufschreiben? Das Wort sagt es eigentlich schon, ein Tagebuch schreibt man jeden einzelnen Tag…oder? Nein! Auch wenn viele diese Art von Umsetzungsidee in sich tragen, so ist doch jedem persönlich überlassen, wie er sein Tagebuch führen möchte. Virginia Woolf plädierte dazu, den Verstand zu überrumpeln, zu schreiben, ohne den Stift abzusetzen, selbst wenn man müde ist. Sie selbst hielt sich an diese Art der eigenen Vorgabe, also ohne die Feder vom Papier zu lösen. Zögerungen, so war Virgina überzeugt, würden verhindern, „dass der Verstand einige belanglose Angelegenheiten unbeabsichtigt aufkehrt“, die sie selbst weggelassen hätte, wäre erst einmal der Prozess des bewussten Schreibens in Kraft getreten.

Ein weiterer Irrglaube in der Führung eines Tagebuchs ist, dass der Verfasser auch der zentrale Mittelpunkt des Ganzen sein muss. Wer sagt denn, dass nicht die Natur, die Reisebegegnung oder eine Krankheit zum Leitthema werden können? Gerade in den letzten Jahren haben sich Tagebücher vielseitig spezialisiert. Auch im Social-Media-Bereich sind das sogenannte „Dankbarkeits-Tagebuch“ oder auch das „6-Minuten-Tagebuch“ zu festen Begrifflichkeiten geworden, ebenso wie das Führen von Blogs, allgemeines Journaling (Ausdruck für die Niederschreibung von Gedanken in einem meist festgelegten Rahmen, also eine Seite lang, 10 Minuten am Stück geschrieben etc.) oder die besonders im letzten Jahr vielseitig begonnenen „Corona-Tagebücher“:
„Wir werden nicht wegfahren. Die Vorstellung, dass uns eine zweite Welle erfasst (für jemand wie mich, der Angst vor dem Ertrinken hat), ist übermäßig. Wenn die Grenzen offenbleiben, Flugzeuge aus fernen Ländern wieder landen, nicht auszudenken. Dabei war ich nie ein ängstlicher Mensch, hatte immer gedacht, das schaffe ich, andere haben es geschafft, dann schaffe ich das auch.“ (Eintrag vom 12. Juli 2020)
Unter anderem sind es diese intimen Gedanken, die die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer online niederschreibt und so mit anderen teilt. Sie ist eine von vielen Autor:innen, die ihre Erlebnisse im Projekt „Die Corona-Tagebücher“ vom Literaturhaus Graz wiedergibt und damit zu einem solidarischen Gemeinschaftsgefühl beiträgt.   
 

Die Aufbewahrung eines Schatzes

Und natürlich stellt sich jeder Schreiber auch irgendwann die Frage, was denn geschieht, wenn die geheimsten Gedanken in fremde Hände gelangen. Hier wird in den meisten Fällen vorgesorgt.
Die Aktentasche ihres Vaters diente Anne Frank als Versteck ihrer Tagebücher. So wie ihr damals geht es auch noch heute vielen Verfassern, deren Wunsch groß ist, dass die Tagebücher (zunächst einmal) geheim bleiben sollen. So werden Schlösser benutzt oder Texte in Geheimschriften wie Nuschu verschlüsselt. Sie wurde von Frauen hunderte Jahre lang in der chinesischen Provinz Hunan genutzt, um die eigenen Gedanken, Wünsche und Träume verdeckt zu halten. Leonardo Da Vinci machte sich die Spiegelschrift zu Nutze, so konnte man seine Ausführungen nur lesen, wenn man einen Spiegel vor das Geschriebene hielt.
Auch können Bücher getarnt in anderen Büchern versteckt werden, wenn zuvor der mittlere Innenteil erfolgreich herausgeschnitten wird, oder man bewahrt den Tagebucheintrag im Computer auf, passwortgeschützt, unter einem willkürlich gewählten Dateinamen abgespeichert (wie wäre es mit dem Tarnwort „Katzengeschichten“). Wer könnte hierbei schon erahnen, was sich wirklich dahinter verbirgt?

Nun, wie auch immer Sie Ihr Gedankengut schützen möchten, lassen Sie sich von der Furcht nicht abhalten, es könnte doch einmal jemand anderes zu Gesicht bekommen.
Mit einem Zwinkern sei gesagt, dass anständige Menschen in ihrem Umfeld die Privatsphäre ihres Tagebuchs höchstwahrscheinlich respektieren werden, zum anderen wäre es wirklich schade, wenn diese Angst sie davon abhalten würde, auf Entdeckungs- und Erinnerungsreise mit sich selbst zu gehen.
Die Begegnungen mit der eigenen Persönlichkeit, der zukünftigen Vision, die man von seinem Leben hat, aber auch die Konfrontation mit dem vergangenen Ich lassen Schätze aufleben, die es wert sind, dass man sich auf die Suche nach ihnen begibt.
Und das Spannendste am Ganzen überhaupt ist doch, dass das Ende noch offenbleibt. Wer würde da nicht neugierig werden, was die Zukunft wohl bringen mag...