Ein kleiner und kleiner werdender Reiter
Gemeinsam mit ihrem Hund läuft das einstige kleine Mädchen Jahrzehnte später noch einmal durch die ihr ehemals so vertrauten Straßen, vorbei an der alten Fabrik, dem Kirchturm und den unzähligen Feldern rund um den Ort Weinfelden. Dem Leser bietet sich ein Panoptikum aus Landschaften, alten Häuserfassaden und Dorfbewohnern, die schon längst gestorben sind, aber immer wieder in der Erinnerung der Protagonistin auftauchen. Gerüche und Geräusche aus Kindheitstagen, wie das Quieken der Schweine im Stall oder das Kindergeschrei im Hof, vermischen sich mit Gegenwartsszenen, in denen Hochhäuser, scharf geschnittene Hecken und Betonplatten die einstige Idylle ersetzen. Oder ist das Kindheitsparadies doch nur eine Täuschung gewesen? Auf den Spuren in die Vergangenheit des Dorfes kehrt die Protagonistin auch zu ihrer eigenen Vergangenheit zurück, besonders zu den Ereignissen, die ihren Vater betreffen. Der Tod des Vaters, der für sie den Abschied von einer unbeschwerten Kindheit hinein ins Jugendalter bedeutete, stellt, wie sie herausfindet, noch viel mehr dar als nur einen Meilenstein in ihrer Biographie. Stets laufen alle Fäden in der Erinnerung an die Vatergestalt zusammen, an den fröhlichen, ausgelassenen, doch zuweilen in sich gekehrten Fabrikdirektor. - Ein Roman der Erinnerung, der sich aus vielfältigen Gedanken zusammensetzt. Zuweilen pathetisch, aber mit scharfer Beobachtungsgabe wird hier das Leben in einem Schweizer Dorf in den Fünfzigerjahren beschrieben sowie die stets fortwährende Sehnsucht nach dem Paradies der Kindheit.
Clara Braun
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Ein kleiner und kleiner werdender Reiter
Elisabeth Binder
Amato-Verl. (2015)
199 S. : Ill. (farb.)
fest geb.