Mein Fall
Wie erzählt man von Kindesmissbrauch? Margaux Fragosos "Tiger, Tiger" und Albert Ostermeiers "Schwarze Sonne" (BP/mp 11/638), beide 2011 erschienen, waren unbehaglich zu lesen. Josef Haslinger fügt eine neue Facette hinzu. "Mein Fall" erzählt aus dem Abstand von über 50 Jahren Haslingers eigene Geschichte. Es geht um Züchtigung und sexuellen Missbrauch von Kindern. Als Zehnjähriger kam er mit dem Wunsch, Priester zu werden, ins Sängerknabenkonvikt Stift Zwettl und erlitt dort als Schüler verschiedene Formen pädophiler Gewalt von Lehrern und Patres. Das Neue an seiner Geschichte ist aber, dass Haslinger die Probleme einer Erinnerung miterzählt, die ins Schlingern kommt, wenn sie erst spät einsetzt; Josef Haslinger konnte erst zu schreiben anfangen, als die Täter nicht mehr lebten. Seine Geschichte beginnt in der Gegenwart mit der Irrfahrt durch Anhörungsstellen der österreichischen Bürokratie. Alle hören zu, niemand scheint zuständig, auch nicht die Klasnic-Kommission, die eigentlich für den Opferschutz arbeitet. Vorab schreibt Haslinger einen Artikel über das Verhältnis "Kirche - Täter - Opfer", differenziert zwischen moralischer Entrüstung und Selbstempathie. Daraufhin wird er scharf angegriffen, seelische Ohnmacht und "falsche Erinnerung" lauten die Vorwürfe. In "Mein Fall" aber geht Haslinger hochgradig ehrlich, ja streng mit seinen Erinnerungen ins Gericht, verschweigt nicht einen gewissen Grad der Opferidentifikation mit den Tätern und erwartet am Ende nicht mehr als eine "christliche Selbstreinigung". Eine bittere, provozierende Dokumentation, keine Abrechnung.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Mein Fall
Josef Haslinger
S. Fischer (2020)
138 Seiten
fest geb.