Für ein Lied und hundert Lieder

China hat einen Solschenyzin - so wie der russische Nobelpreisträger mit den Mitteln der Literatur die sowjetischen Gulags ins öffentliche Bewusstsein brachte, könnte dies auch Liao Yiwu gelingen. Als eigentlich politisch unengagierter Bohemien Für ein Lied und hundert Lieder schreibt er 1989 ein Gedicht über das Pekinger Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens. Das genügt in China, um vier Jahre lang unter grausamen Bedingungen inhaftiert zu werden. Liao Yiwus Schilderung berührt deshalb besonders, weil er sich selbst dabei nicht schont, seine eigene Verrohung in der Haft nicht verleugnet. Der Leser muss dabei einiges aushalten, die Demütigungen, die Gewalt und der Zynismus des Lagersystems sind in ihrer nüchternen Darstellung bedrückend. Etwa wenn er den allgegenwärtigen Hunger in den Lagern schildert, der zu einer grausamen Entsolidarisierung der Gefangenen führt. Mit Absicht werden Kriminelle und politische Gegner gemeinsam untergebracht und erstere bestimmen die Hierarchie. Mit dem Stilmittel des Zeitsprungs macht Liao Yiwu eindringlich deutlich, wie für ihn seit seiner Haft Vergangenes und Gegenwärtiges nebeneinandergeht. Seine Manuskripte über seine Lagerzeit wurden mehrere Male beschlagnahmt und vernichtet. Wie Solschenyzin musste auch Liao Yiwu sein Heimatland verlassen, um seine Bücher schreiben und veröffentlichen zu können. Zur Zeit lebt er im deutschen Exil. - "Für ein Lied und hundert Lieder" macht deutlich, dass es in China nicht nur verblüffende und wunderbare Wirtschaftsdaten gibt, sondern auch einen Unrechtsstaat, der die Meinungsfreiheit brutal unterdrückt. Deshalb verdient dieses Buch weite Verbreitung.

Alois Bierl

Alois Bierl

rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Liao Yiwu
S. Fischer (2011)

584 S.
fest geb.

MedienNr.: 568165
ISBN 978-3-10-044813-2
9783100448132
ca. 24,95 € Preis ohne Gewähr
Systematik: Ge, So
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