Luise Rinser

Manchmal ist eine Biografie lehrreicher als ein literarisches Werk. Das ist der Fall bei Luise Rinser (1911-2002). Die Autorin galt jahrzehntelang als "Integrationsfigur" und "moralische Instanz" der Bundesrepublik Deutschland, 1984 kandidierte sie Luise Rinser sogar für das Amt des Bundespräsidenten. Sie wurde zeitlebens viel geehrt, ihre Bücher, "Mitte des Lebens" (1950), der Franziskusroman "Bruder Feuer" (1975), das rebellische Jesusbuch "Mirjam" (1983), der Roman "Abaelards Liebe" (1991), wurden viel gelesen. Heute ist ihr Werk weitgehend vergessen. Nicht zu Unrecht, muss man sagen, zumal seit man die Wurzeln kennt, aus denen es erwachsen ist. José Sánchez de Murillo, ein Tiefenpsychologe, hat ohne falsche Schonung, aber mit dem nötigen Respekt des Biografen, die Widersprüche der Biografie aufgedeckt. So wird der selbst gezimmerte Mythos der Autorin sichtbar, die eben nicht nur eine Mutter Courage der Kriegszeit und zeitweilig inhaftierte Regimegegnerin war, wie sie in ihrer Autobiografie beteuert, sondern eine politisch verstrickte und nur scheinbar irrtumsresistente Frau, die als junge Lehrerin ihren jüdischen Schulleiter denunzierte, die zur Leiterin eines Lagers von HJ-Gruppenführerinnen aufstieg und an einem Propagandafilm der UFA mitwirkte. Erschreckend ist die Kontinuität, die ihre frühen Huldigungsgedichte an Hitler ("Wir sind Deutschlands brennendes Blut") mit ihrer Sympathie für den nordkoreanischen Diktatur Kim Il-Sung verbindet. Murillo arbeitet zahlreiche Quellen auf, darunter Rinsers Briefe an Hermann Hesse und an Karl Rahner; das "klerikale Liebesdreieck" (hinzu kommt ein Benediktiner-Abt) ist ein eigenes Kapitel. Der Biograf resümiert - und man beachte die Stellung der Attribute: "eine bedeutende Frau und eine begabte Schriftstellerin". Eine Biografie, die nicht unbedingt zur Lektüre von Rinsers Werken einlädt, aber einen aufschlussreichen Blick auf ihr Leben wirft.

Michael Braun

Michael Braun

rezensiert für den Borromäusverein.

Luise Rinser

Luise Rinser

José Sánchez de Murillo
S. Fischer (2011)

464, [16] S. : Ill.
fest geb.

MedienNr.: 341982
ISBN 978-3-10-071311-7
9783100713117
ca. 22,95 € Preis ohne Gewähr
Systematik: Li
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