Die Stunde mit dir selbst
Reiner Kunze ist ein behutsamer Dichter. Kürze und Konzentration sind Kennzeichen seiner Lyrik seit über 60 Jahren. Er findet Halt "an der stille", so zitiert er sich selbst in der ihm eigentümlichen gemäßigten Kleinschreibung in seinem Lyrikband "die stunde mit dir selbst". Es ist eine erfüllte Stunde, eine Lektion des Alters und eine Liebeserklärung an die Muttersprache, zu der sich Kunze übrigens in einer bemerkenswerten, in diesem Band mit abgedruckten Rede vor dem Europäischen Parlament bekennt. Die Gedichte haben Reisen zum Anlass, nach Helsinki und in die Ukraine, die Erinnerungslandschaften der Lyrik von Paul Celan und Rose Ausländer. Sie rufen Schneefall und Augustsonne auf. Sie arbeiten sich am digitalen Zeitalter ab mit einer vielleicht etwas zu skeptischen Sicht auf die modernen Medien. Und sie schreiben sich auf den Zerfall der Zeit im hohen Lebensalter zu, wenn oft Schweigen die Antwort ist, ohne der Ehrfurcht vor dem Schönen und dem nicht abnehmenden Staunen über manche Dinge zu weichen. Klarsichtige Gedichte mit leiser Melancholie, konzise Kalenderblätter, allen Beständen zu empfehlen.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Die Stunde mit dir selbst
Reiner Kunze
Fischer (2018)
67 S.
fest geb.