Die Passion
In dem schmalen Band versetzt sich die Autorin in Form eines Monologs in den Menschen Jesus und seine Gedanken in der Nacht vor und während der Kreuzigung. Wie Jesus feststellen muss, dass die Menschen, die er durch ein Wunder geheilt hat, nun im Prozess gegen ihn ausgesagt haben; wie ihn in der Nacht Angst überkommt; wie ihn die Erwartungshaltung der Menschen, Wunder zu vollbringen, irritiert hat. Die Wunder "haben das, um dessentwillen ich gekommen war, verfälscht, die Liebe war nicht mehr absichtslos, sie musste etwas bringen". Er denkt an seine Mutter und an Maria Magdalena, seine große Liebe. Er spricht von den Stärken und Schwächen seiner Jünger, kritisiert die Evangelisten. Nothomb lässt Jesus Gott vorwerfen, dass er vieles nicht verstehen könne ohne Körper. Denn "tiefe Wahrheiten erfährt man nur, wenn man dürstet, liebt oder stirbt - drei Zustände, die einen Körper voraussetzen". Auch wirft er Gott vor, dass sein Opfertod ein Fehler ist und enormen Schaden anrichten wird; er leidet, aber er liebt seinen Vater, auch wenn er wütend ist. Seine Schmerzen, seine Zweifel werden immer stärker. "Der große Unterschied zwischen meinem Vater und mir ist, dass er Liebe ist und ich liebe". Am Ende sagt er, dass er glaube und was für ihn Glauben bedeutet. Ein zentrales Thema der Autorin ist "Durst", so lautet auch der französische Titel ("Soif"). Passion bezeichnet für Nothombs Jesus "das, was man erleidet, und als semantische Folgerung ein maßloses Gefühl ohne Beitrag der Vernunft". Viele kluge, provozierende Gedanken der Autorin von vielen provozierenden Büchern regen zum Diskutieren an. Viele ihrer Fragen sind bereits gestellt worden – und doch ist es gut, sie erneut zu stellen, denn jeder Mensch muss seine eigene Antworten darauf finden. Die Autorin bringt ihre eigene umfängliche Bildung, von Bibelzitaten über die Musik, Kunst und Altgriechisch, ein und gibt mit ihrem persönlichen Bild eines sehr menschlichen Jesus interessante Denkanstöße.
Ileana Beckmann
rezensiert für den Borromäusverein.
Die Passion
Amélie Nothomb ; aus dem Französischen von Brigitte Große
Diogenes (2020)
123 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Roman des Monats