Was heißt: einen literarischen Text interpretieren?
Das Reden über Literatur, so das Credo des Autors, sei kein schmückendes Beiwerk der literarischen Kultur, sondern ihr "unabdingbarer Bestandteil". Wer sich allerdings anschickt, einen Text zu interpretieren, müsse gute Gründe vorweisen können, welche entweder im Text selbst oder im Betrachter lägen. Schon Sokrates habe festgestellt, dass die "Umstehenden" mitunter trefflicher über die vorgetragene Dichtung zu reden gewusst hätten als deren Urheber. Jan Philipp Reemtsma umkreist die möglichen Herangehensweisen an eine Textinterpretation und die auf diesem Weg vielfach ausgelegten Fallstricke. Er zieht Beispiele von der Antike bis zur Moderne heran, verweist auf Schrifsteller, Romanfiguren, Germanisten, Philosophen - nicht selten sind es ein, eineinhalb Dutzend miteinander verknüpfte Namen auf zwei willkürlich aufgeschlagenen gegenüberliegenden Druckseiten - und unternimmt eigene Interpretationsversuche, etwa zu Goethes Epos "Hermann und Dorothea". Reemtsmas anspruchsvoller Essay ist keine praktische Handreichung für Rezensenten, genauso wenig stellt er Lehrsätze für angehende Germanisten auf. Vielmehr vollführt er in großer geistiger Flexibilität eine ebenso abwechslungsreiche wie komplexe Diskussion von Problemfeldern wie Perspektive, Inhaltsangabe oder Metaphern. - Literaturinteressierten Leser/innen in größeren Beständen empfohlen.
Thomas Völkner
rezensiert für den Borromäusverein.
Was heißt: einen literarischen Text interpretieren?
Jan Philipp Reemtsma
Beck (2016)
316 S.
fest geb.