Bald sind wir aber Gesang
In der Auswahl aus dem Werk eines Dichters versucht eine Epoche meist Auskunft über ihre eigene Zeit zu finden. So formuliert es Navid Kermani, der mit mehreren Preisen geehrte Schriftsteller und Publizist. Er hält sich bei seiner Auswahl aus dem Gesamtwerk Hölderlins an die eigenen Vorlieben, wählt auch aus verschiedenen Fassungen aus. Das sind dann 54 Seiten Lyrik, fast gleichviel Seiten aus zwei Fassungen des Hyperion-Romans, halb so viel Seiten für drei Auszüge aus dem Drama "Der Tod des Empedokles", ein paar Seiten aus Aufsätzen und Aphorismen, viereinhalb Seiten Übersetzungen, gut 60 Seiten mit ungekürzten Briefen und einem Stammbucheintrag. Daraus erhellt das starke Interesse an der Person des Dichters und an seinem vielschichtigen Schaffensprozess. Die beiden Auszüge aus dem "Empedokles" zeigen klar die Beweggründe des Helden, aber auch seine Isolierung. Hochgestimmtheit und Verzweiflung sprechen aus den Briefen des Hyperion. Die Übersetzungen, nämlich Pindar-Fragmente und ein kurzer Auszug aus Sophokles` Antigone. heben als Nachdichtungen die Aussagen des Originals stärker heraus. Wichtig bei der Auswahl ist Kermani besonders die Schönheit von Sprache und Ausdruck. Eine repräsentative Auswahl hat Kermani vorgelegt, doch für welche Zielgruppe als Leser? Wie sollen sich heute Leser ohne etwas Führung und Erläuterung in den verschlungenen Satzkonstruktionen und der Götterwelt zurechtfinden, mit denen Hölderlin, so Kermani, den Rätselcharakter der Welt einfängt? Nur für entsprechend gut vorgebildete Leser/-innen.
Bernhard Grabmeyer
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Bald sind wir aber Gesang
Friedrich Hölderlin ; von Navid Kermani
C.H.Beck textura (2020)
255 Seiten
fest geb.