Die Macht am Mittelmeer

Während das Mittelmeer zurzeit Grab unzähliger Flüchtlinge ist, hilft das Buch von Wolf Lepenies auch dieses Phänomen in die kulturell wie geopolitisch aufgeladene Beziehung zum Mittelmeer aus der Sicht unseres französischen Nachbarn einzuordnen. Während sich Europa spätestens seit der deutschen Wiedervereinigung, darauf erfolgter Osterweiterung und Finanzkrise von Deutschland dominiert sieht, bleibt die Sehnsucht Frankreichs nach seiner alten Führung im Raum der romanisch-lateinischen Welt unerfüllt, zuletzt durch das Veto der Kanzlerin gegen die von Sarkozy angestrebte Mittelmeer-Union. Lepenies, bis 2001 Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs und 1991/92 am Collège de France tätig, ist als Soziologe und Historiker ein großer Sachkenner und Denker, der sich des umfangreichen Stoffs mit spürbarer Nähe zum Problem annimmt. Er knüpft an die Ideen französischer Staatsdenker wie Alexandre Kojève oder Saint-Simon an, verfolgt die historischen Landmarken der Diplomatie und Kriege von Napoleons Ägyptenfeldzug bis zur Nahost-Diplomatie und zieht die Fäden zusammen im französisch-deutschen Verhältnis, das im Kampf um ein Europa der Latinität zentral ist. Knotenpunkte sind hier die Präsidenten de Gaulle, Mitterand, Sarkozy und ihre Partner und zugleich Gegenpole Adenauer, Brandt und Merkel. Lepenies pflegt eine präzise und verständliche Sprache, erzählt interessanteste Anekdoten (etwa von Brandt und Mitterand im ehemaligen Reisewagen Hermann Görings) und dabei die Bedeutung des Mittelmeers, des Selbstverständnis der romanischen Welt im Spiegel Frankreichs anschaulich und höchst spannend beschreibt. Dabei erwartet der Verlag Leser, die zumindest imstande sind, die im Original belassenen französischen Zitate zu verstehen. Der Rezensent hätte dagegen erwartet, dass das ansonsten hervorragend lektorierte Buch die mythologische Mithras-Figur nicht in Toga, sondern in der bezeugten Tunika kleidet. Lepenies sei allen Lesern wärmstens empfohlen, die über den Gartenzaun deutscher Verhältnisse und Debatten hinausblicken mögen.