Süßer Ernst
Jon Sigurdsson ist ein altgedienter Londoner Regierungsbeamter, der seine Dienstherren kommen und gehen sah. Abgestumpft von den immer gleichen politischen Ränkespielen, hat er den Glauben an sich verloren und versinkt im Selbstmitleid. Um noch ein wenig Zärtlichkeit erfahren zu können, bietet er über Zeitungsanzeigen Brieffreundschaften mit Frauen an. Darüber lernt er die arbeitslose Alkoholikerin Meg kennen. Meg ist seit einem Jahr trocken und kämpft sich mithilfe einer Halbtagsstelle im Tierheim zurück ins Leben. Nach einer Vergewaltigung scheut auch sie direkten menschlichen Kontakt in einer Beziehung. Jons Brieffreundschaft erscheint ihr zunächst ungefährlich. Nachdem sie in ihm aber eine verwandte, verwundete Seele erkennt, sucht sie ihn auf und die beiden beginnen eine vorsichtige, zärtliche Beziehung. - Der Leser begleitet Jon und Meg über die Zeitspanne eines Tages hinweg, in dem man ihre unterschiedlichen Wege hin zu einem gemeinsamen Treffen verfolgt, das beinahe an Jons Mutlosigkeit und Dienstbeflissenheit scheitert. Am Ende schaffen sie es doch noch und blicken gemeinsam auf das geschäftige London, das dem Leser zuvor in mehreren kleinen Episoden als zerrüttete Großstadt präsentiert wurde. Feinsinnig und sprachgewaltig zeichnet die Autorin Parallelen zwischen den gesellschaftlichen Schwierigkeiten und den bewegten Lebensgeschichten der Protagonisten. Ein großartiger Roman, der aktueller nicht sein könnte. (Übers.: Ingo Herzke und Susanne Höbel)
Stefanie Simon
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Süßer Ernst
A. L. Kennedy
Hanser (2018)
556 S.
fest geb.