Die Hochhausspringerin
Es gibt einen neuen Trend in der Gegenwartsliteratur. Junge unbekannte Autoren entwerfen durchdigitalisierte Zukunftswelten. Heraus kommen realutopische Romane von einer Gesellschaft, die so perfekt schnurrt wie eine Maschine, aber von ihrer menschlichen Substanz überrascht wird. Eine solche Systemerzählung der unheimlichen Art bietet Julia von Lucadous erster Roman. Er handelt von der Hochhausspringerin Riva, die sich auch im übertragenen Sinne abseilen will aus den Funktionszwängen. Die ihr gegenüberwohnende Wirtschaftspsychologin Hitomi soll sie in den goldenen Käfig zurückholen. Dieses Resozialisierungsprojekt, wenn es denn eines ist, wird mit viel technologischem Gepäck geschultert. Es kommen Apps, Blogs, Facetags, Posts, Beziehungszielprofile, Mindfulness-Programme, Gossip- ebenso wie Newsportale ins Spiel, die Personen sind erfolgreiche Angestellte, sie ordnen ihren Tag mit Activity Trackers und sehnen sich nach ihren Bioeltern in den Peripherien, den Außenbezirken der Maschinenstädte. Faszinierend inmitten des Techniktumults ist es, wie die Autorin aus der Detektiv- und Voyeursgeschichte eine Parabel vom menschlichen Mitleid macht. Erst Neid, dann Mitleid und fast so etwas wie Barmherzigkeit und Güte sind die Untertöne in der Beziehung zwischen der Leistungssportlerin und Seelenretterin. Ein manchmal grotesker, manchmal lehrreicher Blick in eine Zukunft, die den Menschen seine familiären, emotionalen und religiösen Wurzeln vergessen lässt.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Die Hochhausspringerin
Julia von Lucadou
Hanser Berlin (2018)
283 S.
fest geb.