Ehrenmord

Vor sechs Jahren wurde in Berlin Hatun Sürücü, eine kurdischstämmige Deutsche (23) von ihrem jüngsten Bruder auf offener Straße durch drei Kopfschüsse regelrecht hingerichtet. Ihr westlich geprägter Lebenswandel und ihr ausgeprägtes Selbstständigkeitsstreben, gepaart mit dem Wunsch nach familiärer Nähe, wurden ihr zum Verhängnis. Ob er aus eigenem Antrieb gehandelt hat oder ob er die Schuld nur auf sich genommen hat, weil er als jüngster von mehreren Brüdern nur nach Jugendstrafrecht belangt werden konnte, das konnte vor Gericht nicht geklärt werden. Auch Goll/Deiß kommen in ihren hochinteressanten, packend geschriebenen und genau recherchierten Ausführungen diesbezüglich zu keinem endgültigen Ergebnis. Ist so lange nach der Tat ein solches Buch, das jedenfalls in der Schuldfrage über die Feststellungen des Gerichts nicht hinauskommt, nicht entbehrlich? Nein, denn es verdeutlicht in exemplarischer Weise, warum es für manche Migranten so schwierig ist, die Herkunftskultur mit den Anforderungen der Ankunftsgesellschaft in Einklang zu bringen. Es zeigt, wie hoch die Hürden in diesem "Kampf zwischen Tradition und Moderne" (S. 189) sind, die überwunden werden müssen, und welche konkreten Konsequenzen das Aufwachsen in einer Parallelgesellschaft hat. Ferner relativiert dieser Bericht auch die These, Bildung und die Kenntnis der deutschen Sprache seien eine hinreichende Voraussetzung für Integration und für die Nivellierung des Problems der Parallelgesellschaften. Alle Beteiligten außer den Eltern hatten eine gute Schulbildung und beherrschten die deutsche Sprache! Fazit: Ein interessanter und ausgewogener Diskussionsbeitrag zu den genannten Problemstellungen und deshalb uneingeschränkt zu empfehlen!