Der große Bibel (Ver-)führer
Die Bibel ist zweifellos das meistgelesene Buch der Welt. Doch nimmt die Kenntnis der biblischen Geschichten in den letzten Jahrzehnten rapide ab. Und selbst wenn jemand die Bibel gut kennt – kennt man sie jemals gut genug? Georg Langenhorst vertritt die Überzeugung, dass man die Bibel immer wieder und immer wieder neu lesen sollte, nicht unbedingt, um mehr Wissen darüber zu sammeln, vielmehr um sich von diesen Texten, ihren Geschichten und ihren Gestalten wirklich ergreifen zu lassen. Um das zu erreichen, hat der Autor neue Zugänge zu den biblischen Büchern gewählt, die auf Unbekanntes, Überraschendes oder oft Übersehenes hinweisen oder aber auch Bekanntes aus einer neuen Perspektive zeigen wollen. Es sind selbst literarische Annäherungen an die biblischen Geschichten, kreative Aneignungen oder Fortschreibungen des bekannten Bibeltextes, die zu einer ersten oder erneuten Begegnung mit ausgewählten biblischen Geschichten und Gestalten einladen wollen. Die Vielfalt der literarischen Gattungen innerhalb der Bibel wird dabei konsequenterweise in einer bunten Auswahl verschiedenster vorgeschlagener Zugänge widergespiegelt. So unterhalten sich beispielsweise die beiden prominenten Josefsgestalten der Bibel, der zweitjüngste Sohn Jakobs, den seine Brüder nach Ägypten verkauft haben, und der Ehemann Marias und Ziehvater Jesu, miteinander über ihre Träume, in denen Gott zu ihnen gesprochen hat. Oder der Prophet Jona schreibt einen Brief an eine Schülerin in unserer Gegenwart, in dem er ihr sein Verhalten zu erklären versucht. Jiftachs Tochter überlegt in den zwei Monaten, die sie sich vom Vater erbeten hat, ob er wohl in dieser Zeit einsehen wird, dass Gott die Opferung seiner Tochter nicht von ihm verlangt, so wie er es letztlich auch von Abraham nicht verlangt hatte… Oder die Schwester der beiden Brüder im Gleichnis vom verlorenen Sohn schildert ihre Sicht der Dinge. Ein Reporter interviewt den Wirt, bei dem der barmherzige Samariter den Verletzten untergebracht hat. Es gibt einen Brief an Gott, den Schöpfer der Welt, über noch ausstehende weitere Schöpfungstage; ein Gedicht, das Petrus Fragen stellt – am Ende aber erkennt, dass auch Petrus uns diese Fragen stellt; und sogar eine „Abrechnung“ mit Paulus. Es findet sich das Testament der Batseba – in zwei völlig unterschiedlichen Versionen; und die Erinnerung eines Schriftgelehrten an seine Begegnung mit dem zwölfjährigen Jesus im Tempel. Insgesamt 54 Denkanstöße, in sechs thematischen Kapiteln zusammengefasst, jeweils die Hälfte zum Alten und zum Neuen Testament, wobei einige Beiträge diese Trennung übergreifen. Egal, ob man nun den vorgetragenen Gedanken oder Sichtweisen zustimmt oder widersprechen möchte, ob man gerne weiter differenzieren würde oder zu weiteren Überlegungen angestiftet wurde, ob man zur Übertragung des Gelesenen auf andere biblische Geschichten angeregt oder auf ganz neue eigene Ideen gebracht wurde – die Texte erreichen in jedem Fall, dass man sich selbst zu den biblischen Erzählungen in ein Verhältnis setzt, dass man spürt: es geht immer auch darum, wie die Bibel mich anspricht, was sie mir persönlich für mein Leben sagen will und wie ich mich dazu verhalte. Es ist ein etwas ungewöhnlicher Ansatz, der zunächst ein Stück weit von der Bibel abrückt, um gerade dadurch umso eindringlicher wieder zur Bibel zurückzuführen. Insofern ist der Buch-Titel „Der große Bibel(Ver-)führer“ wirklich eingelöst und man kann dem Buch nur möglichst viele Leserinnen und Leser wünschen – denn ob nun eher bibelfern oder eher bibelfest spielt dabei zum Glück gar keine Rolle! (Religiöses Buch des Monats Juli)
Der große Bibel (Ver-)führer
Georg Langenhorst
Verlag Katholisches Bibelwerk (2022)
319 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats