Wir sind dann wohl die Angehörigen
Der Sohn Jan Philipp Reemtsmas erinnert sich in dieser Dokufiktion 22 Jahre später die Entführung seines Vaters im Jahre 1996. Jan Philipp Reemtsma befand sich mehr als einen Monat in der Gewalt seiner Entführer. Der damals 13-jährige Johann Scheerer erzählt aus seiner damals begrenzten Sicht äußerst detailreich über die Forderungen der Entführer, die mehrfach gescheiterten Versuche der Geldübergabe, das nicht immer optimale Verhalten der Polizei, die Beteiligung der wenigen mit einbezogenen Verwandten oder Freunde der Familie und vor allem über die eigene Befindlichkeit, das Schwanken zwischen Hoffnung und Verzweiflung und das verzweifelte Bemühen der Mutter, die Fassung zu bewahren und Zuversicht zu verbreiten "in diesem Karussell des Wahnsinns, des erschöpfenden Wartens, der fiebrigen allgegenwärtigen Angst" (S. 195). Nur auf den ersten Blick erstaunt es, dass der damals 13-Jährige seine innere Unruhe, seine Angst und seine Schuldgefühle mit vielfach banalen Tätigkeiten zu betäuben versuchte: Fernsehen, Ostereier-Suchen, Kauf einer Gitarre ... Die realen Haftbedingungen Reemtsmas, die Umstände der Freilassung oder auch die Perspektive der Entführer werden nur am Rande thematisiert. Es verwundert nicht, dass die Höhe der geforderten und schließlich bezahlten Geldsumme, immerhin 30 Millionen DM, bei dieser hochvermögenden Familie zu keinem Zeitpunkt eine Rolle spielen. - Fesselnde und eindrucksvolle Lektüre.
Helmer Passon
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Wir sind dann wohl die Angehörigen
Johann Scheerer
Piper (2018)
235 S.
fest geb.