Die Kunst des Erzählens
Schon Schüler müssen sich heute mit Erzähltheorie herumschlagen. Ihnen und allen, die sich stattdessen für die Kunst des Erzählens interessieren, kann geholfen werden. James Wood, der in Harvard lehrt und als "Marcel Reich-Ranicki der amerikanischen
Literaturkritik" seit 2007 für den "New Yorker" schreibt, sagt "How Fiction Works". Den Titel erklärt Daniel Kehlmann im Vorwort so: Wood vermittle nicht nur, wie ein Romancier arbeitet, er zeige auch, was das Buch mit dem Leser anstellt (es schärft zum Beispiel seine Aufmerksamkeit). Und das auf überaus verständliche, beispielreiche und zugleich mit der Poetik des Romans wohlvertraute Weise. Es geht im Kern um die Entstehung des modernen Romans aus dem Geiste der Erzählkunst Flauberts, der Verzeitlichung, Innensicht, Figurenbewusstsein und vor allem das sprechende Detail in die Literatur eingeführt hat. So ist ein "Barometer", das unversehens in einem Romansatz zwischen "Klavier" und "alten Kisten" auftaucht (in "Das einfache Herz"), kein Zufall, sondern ein vieldeutiges Aufmerksamkeitssignal, das dem Leser sagt: Schau her, das kennst du auch. Der Realismus des Romans besteht also für Wood im "Leben auf der Buchseite". Literatur kann uns insofern zu einem "besseren Beobachter" machen (des Buches, der Welt, von uns selbst). Ein leidenschaftliches, kluges und auch kritisches Plädoyer also für den klassischen Realismus, den Wood leider fast nur an den nichtdeutschen Autoren des 19. Jahrhunderts feststellt. Wie gerne hätte man unter diese Lupe auch Thomas Mann, Döblin oder Ingeborg Bachmann und Günter Grass gelegt. Etwas pessimistisch ist Woods Perspektive auf die Romane im 20. Jh. mit ihrem "kommerziellen Realismus" schon; als ob Kehlmann nicht den "Gegenwartsroman, der in der Vergangenheit spielt", wiederentdeckt hätte. Ein Buch, das auf jede anspruchsvolle Leseliste gleich neben die Romane gehört. Für größere Bestände ein Muss!
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.

Die Kunst des Erzählens
James Wood
Rowohlt (2011)
236 S.
fest geb.