Hammerstein oder Der Eigensinn
Hans Magnus Enzensberger erzählt und dokumentiert eine ungewöhnliche Familiengeschichte. Es ist eine Variation über das Thema Zivilcourage und totalitäre Herrschaft. Ein Thema, das Enzensberger besonders seit dem Golfkrieg von 1991 immer wieder aufgegriffen hat. Hier behandelt er es am Beispiel des ehemaligen Generalstabschefs Kurt von Hammerstein. Bis 1934 leitete dieser die deutsche Reichswehr. Weil er Hitler für ein Verhängnis hielt, trat er von seinem Amt zurück. 1943 starb er an einer Krebs-Erkrankung. Drei seiner Töchter schlossen sich zeitweise der kommunistischen Bewegung an und standen sowjetischen Spionagekreisen nahe. Zwei seiner Söhne wurden Offiziere und schlossen sich dem Widerstand an. Pikanterweise war Kurt von Hammerstein auch der Schwiegersohn Walter von Lüttwitz', der 1920 den antidemokratischen Kapp-Putsch mit vorbereitete. Enzensberger nimmt sich dieser Familiengeschichte auf eine ganz eigene Weise an. Er erzählt keinen historischen Roman und er schreibt keine wissenschaftliche Studie. Als brillanter Schriftsteller bedient er sich verschiedener Formen, flicht hier eine Glosse ein und greift dort die Tradition der "Totengespräche" auf, in denen er fiktive Dialoge mit den verstorbenen Akteuren führt. Dadurch werden sie als Figuren häufig plastischer als durch die historischen Dokumente. Dadurch reißt das Buch den Leser mit. Enzensberger begleitet die Familie und den Kreis Hammersteins mit Sympathie, ohne die persönlichen Fehler der einzelnen Menschen zu übergehen. Eine Frage lässt der Autor aber leider offen: Warum gerade Kurt von Hammerstein, der ganz selbstverständlich auch in den deutsch-nationalen und militärischen Ansichten seines Milieus verwurzelt war, eine solche politische Weitsicht und Courage entwickelte, die er auf seine ganze Familie übertrug. - Insgesamt jedenfalls sehr lesenswert.
Alois Bierl
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Hammerstein oder Der Eigensinn
Hans Magnus Enzensberger
Suhrkamp (2008)
375 S. : zahlr. Ill.
fest geb.