Indigo

Die gute Nachricht ist: Die Indigo-Krankheit, die der Dreh- und Angelpunkt von Clemens Setz' neuem Roman ist, gibt es nicht. Jedenfalls nicht als medizinische Diagnose. Sie ist ein Produkt der Esoterik. Sogenannte Indigo-Kinder tragen eine unsichtbare farbige Aura, sie wirken erhaben und hochbegabt, aber auch hypersensibel, und sie rufen bei Menschen, die ihnen nahekommen, schmerzhafte körperliche Abwehrreaktionen hervor. Ein solcher Fall, allerdings im ,ausgebrannten' Status des Erwachsenseins, ist Robert Tätzel, der einen wesentlichen Erzählstrang des Romans bestimmt. Der Haupt-Plot dreht sich um keinen geringeren als Clemens Setz, der als junger Mathematiklehrer an einem steirischen Internat mit betroffenen Kindern praktiziert und auf so merkwürdige Dinge stößt wie die "Delokation" und "Relokation" unbehandelbarer Patienten. Der Leser, der mit der sprachmächtigen und phantasievollen Erzählweise von Setz' letztem Roman "Frequenzen" vertraut ist, wird natürlich die Romanfigur vom Autor unterscheiden können. Der Mummenschanz, den der Erzähler mit scheinbaren Fakten, wahren und halbwahren Dokumenten, multimedialen Querverweisen auf Film und Literatur treibt, kann für den, der sich darauf einlässt, ein Heidenspaß sein, reizt aber manchmal auch die Grenzen des Erträglichen aus. Gewalt ist der unheimliche Begleiter der esoterischen Handlung, die, einfach gesagt, eine Spurensuche der Romanfigur "Setz" nach ehemaligen Schülern des Internats ist. Befremdet und fasziniert starrt man am Ende mit dem laut Boulevardpresse zum Mörder gewordenen Erzähler auf die "Tageslichtspielarten der Menschen und Tiere" im Banne des Unbekannten. Ein formal virtuoses, inhaltlich uferloses Buch, die düstere hypermoderne Version des "sanften Schreckens", der die späte Prosa Adalbert Stifters auszeichnet. Auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2012 ebenso wie für den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis nominiert.