Die Stunde zwischen Frau und Gitarre
Wenn das Buch (mit Kafka) die Axt ist für das gefrorene Meer in uns, dann führt der 1982 in Graz geborene Schriftsteller Clemens Setz mit seinen Romanen eine scharfe Klinge. Nach "Indigo" (BP/mp 12/882) und "Frequenzen" (BP/mp 09/871) ist "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" ein weiterer Roman des studierten Mathematikers, der auf verstörende Weise die Oberfläche der digitalen Diktaturen unserer Zeit aufreißt. Hauptfigur ist die junge Natalie, die als Bezugsperson ("Bezugi") in einem Wohnheim für behinderte Menschen arbeitet. Doch sie laboriert an weitaus folgenreicheren Zwangsneurosen als die anderen beiden Figuren, mit denen sie zu tun hat. Der eine, Dorm, sitzt im Rollstuhl und ist ein ehemaliger Stalker. Der andere, Christoph, besucht ihn regelmäßig und ist sein ehemaliges Opfer. Der Rollentausch zwischen Täter und Verfolgtem wird in surrealen Szenen genüsslich durchgespielt (ähnlich wie in den Stalkerromanen von Strubel ("Vom Dorf", 2007), Kurbjuweit ("Angst", BP/mp 13/355) und Hermann ("Aller Liebe Anfang", BP/mp 14/671)), aber es geht in erster Linie um Natalie, die ihr Selbstwertgefühl aus iPhone, Chats und Blogs bezieht und ihre exzentrische ("aurige", schreibt Setz, auf 'traurig' und 'Aura' anspielend) Weltsicht dem Leser aufzwingt. So entsteht das verwirrende Porträt einer buchstäblich verrückten Anstalts-Welt, in der zivilisatorische Übereinkünfte gekündigt, Menschenwürde und Gottesfrage auf die Probe gestellt und die "Ästhetik des Unheimlichen" (Thomas Andre) gefeiert wird. Die Sprache ist erfinderisch, manchmal hinterlistig, der Roman aber übererfüllt sein Thema, so dass sich beim Lesen keine dauerhafte Spannung entwickeln kann. Wohl aber Nachdenken und viele Fragen, deren Antwort uns der Autor (wohlweislich?) vorenthält. Größeren Beständen empfohlen. (Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2015)
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Die Stunde zwischen Frau und Gitarre
Clemens J. Setz
Suhrkamp (2015)
1018 S. : Ill.
fest geb.