Das Pfingstwunder

Professor Gottlieb Elsheimer, ein renommierter Dante-Spezialist, sitzt in seiner Frankfurter "Unglücksbude" (S. 155) und erinnert sich an die unerklärlichen Vorkommnisse, die sich jüngst in Rom zugetragen haben. Am Pfingstwochenende des Jahres 2013 Das Pfingstwunder waren mehr als dreißig Forscher aus aller Welt zusammengekommen und hatten sich über Dantes Göttliche Komödie ausgetauscht. Sie reden sich in hymnische Begeisterung hinein. Beim Klang der Pfingstglocken, als sie den Text der Divina Commedia fast vollends durchmessen haben, geschieht - analog zu den Ereignissen des Textes - das Wunder der Levitation: Literatur und Wirklichkeit werde eins. Sie sprechen "in Zungen" und "wie leuchtende Wortfackeln sprangen sie herum - kletterten auf Fensterbrüstungen - up up and away - up ins danteske Wörternirwana der nimmer endenden Glückseligkeit" (S.117) Elsheimer, jedem Wunder abhold, bleibt als einziger zurück und hat keinen Anteil daran und fragt sich: "warum zum Teufel noch mal ich nicht?" (S. 117) Was er nun in einem oft ungeordneten Gedankenmonolog zu Papier bringt, nennt er "Geschreibsel", das eh nichts wert ist. (S. 135) Zwar vollzieht der Roman einerseits den Weg Dantes und Vergils/Beatrices ganz folgerichtig durch Inferno, Purgatorio, Paradiso, andererseits bietet er ein krauses Durcheinander: Von seiner momentanen Befindlichkeit, seiner Depression, ist die Rede, unterbrochen von Details aus seiner Vergangenheit. Im Zentrum steht aber immer die intensive Analyse von Dantes Commedia, wie sie in aller Ausführlichkeit von den verschiedenen Referenten vorgestellt wurde, ferner die verschiedenen Interpretationen und Übersetzungsvarianten. (Die Autorin selbst hat nach eigenem Bekunden 70! (Teil) Übersetzungen zu Rate gezogen.) Es werden Parallelen zu anderen Texten hergestellt, ja sogar von den vielfältigen Illustrationen dieses Werks und nicht zuletzt von den Eigenheiten und der Performance der verschiedenen Referenten ist die Rede. Immer wieder stellt der Protagonist auch Bezüge zu Ereignissen und Personen der Entstehungszeit des Textes (um 1300 nach Chr.) und der unmittelbaren Gegenwart her. Fazit: Eine kenntnisreiche, überaus enthusiastische, sprachsensible Interpretation dieses "berühmtesten und zugleich am wenigsten gelesenen Werkes der Weltliteratur" (S. 262) im Gewande eines Romans. Für die Volte ins Phantastische entschuldigt sich der Text quasi selbst: "Logik sei Sache der Philosophie, aber sie gelte - gottlob - nicht in gleichem Maße für die Dichtung." (S.278) Zu Recht stellt sich der Ich-Erzähler den "Dante-Liebhaber" als bevorzugten Adressaten vor. (S.102) Der sehr anspruchsvolle Roman der hochdekorierten Autorin (Büchner-Preis) dürfte in der Tat nur bei einem kleinen Leserkreis Anklang finden. Fazit: Romanistik-Seminar im Gewand eines Romans!

Helmer Passon

Helmer Passon

rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Das Pfingstwunder

Das Pfingstwunder

Sibylle Lewitscharoff
Suhrkamp (2016)

349 S.
fest geb.

MedienNr.: 830407
ISBN 978-3-518-42546-6
9783518425466
ca. 24,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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