Kronhardt
Als einziges Kind der Firmenerbin der Bremer Maschinenstickerei "Kronhardt & Sohn" wächst Willem unter der strengen Überwachung von Mutter und Stiefvater auf, dem Bruder seines leiblichen Vaters, der unter seltsamen Umständen Anfang der fünfziger Jahre starb. Seine Eltern trauern dem Dritten Reich nach, verteufeln den Kommunismus, verherrlichen die USA. Um der totalen Kontrolle seiner Mutter zu entkommen, ist Willem nach außen ein vorbildlicher Sohn, in seinen Gedanken und bei Ausflügen in die Natur aber frei. Er will seinen eigenen Weg finden, den er nicht in der Firma und auch nicht in der Studentenbewegung der sechziger Jahre sieht - andererseits genießt er durchaus die Vorteile eines finanziell abgesicherten Lebens. Immer wieder greift seine Mutter in sein Leben ein - auch die Heirat mit der Tuchhändlerin Barbara, seiner großen Liebe, hat sie eingefädelt. Schließlich ist er nicht mehr überrascht festzustellen, dass auch der Tod seines Vaters für seine Mutter Mittel zum Zweck war. - Die über 900 Seiten dieses Entwicklungsromans fordern vom Leser Konzentration und Durchhaltevermögen, aber es lohnt sich: Mit dem Leben Willems werden 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland wieder lebendig: Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Studentenunruhen, Migrationsprobleme, Mauerfall, Wirtschaftskrise, auch die Entwicklung der DDR und der Sowjetunion - alles in einer Sprache, die diese Ereignisse und Phänomene vielfältig beschreibt, dazu kommen genaue Naturbeobachtungen. Eine sehr empfehlenswerte literarische Reise durch sechzig Jahre Zeitgeschichte!
Gudrun Eckl
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Kronhardt
Ralph Dohrmann
Ullstein (2012)
920 S.
fest geb.