Eine Frau am Telefon
Es scheint, als würde man neben der 62-jährigen Charlène stehen, wenn diese mit ihrer erwachsenen Tochter telefoniert. Mal geht es um ihre gemischten Erfahrungen mit dem Online-Dating, dann berichtet sie über die Behandlung ihres Blutkrebs, ein anderes Mal beklagt sie sich über ihre beste Freundin Colette. Oft spart Charlène, bei der eine leichte Bipolarität diagnostiziert wurde, nicht mit abfälligen Kommentaren und Vorwürfen gegenüber ihrer Tochter, nur um im nächsten Telefonat eine heitere Gelassenheit auszustrahlen. Aus ihren Schilderungen wird deutlich, dass sie sich gerne als Opfer der Unfreundlichkeiten anderer betrachtet, ohne jedoch das eigene Verhalten zu reflektieren. Die Antworten der Tochter erfährt man in diesem Roman nicht, was aber insofern kein Hindernis darstellt, als dass diese ohnehin nur Statistin ist, eine Leinwand, auf die Charlène ihre Emotionen projizieren kann. - Ein überaus originelles Werk, das den Leser zugleich unterhält und tiefes Mitgefühl mit der Tochter der Protagonistin empfinden lässt. Sehr zu empfehlen! (Übers.: Anne Braun)
Marlene Knörr
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Eine Frau am Telefon
Carole Fives
Deuticke (2018)
126 S.
fest geb.