Das kurze Glück der Gegenwart

Jede Neuerscheinung muss in sich den Beweis tragen, warum sie gelesen werden sollte. So fordert es der Literaturkritiker Kämmerlings. Er macht auf dem aktuellen Buchmarkt ein Zuviel an privaten und historischen Stoffen aus, wobei diese sich doch bereits in zahlreichen Klassikern der Weltliteratur finden lassen und dort kunstvoll verarbeitet wurden. Diese Stoffe liefern dem Leser nur Erfahrungsersatz. Gegenwartsliteratur soll jedoch Erfahrungsdeutung sein. Daher fordert Kämmerlings, dass in zeitgenössischer Literatur u.a. aktuelle politische, wirtschaftliche und technische Themen aufgegriffen werden. In neun Kapiteln zeigt er kenntnisreich, wie auf verschiedenen Gebieten Erfahrungsdeutung gelingen kann oder bereits gelungen ist. Zum Beispiel finden sich in zeitgenössischen Werken gelungene Auseinandersetzungen mit Berlin als neuer Hauptstadt. Ein weiteres Kapitel beschreibt, wie ost- und westdeutsche Autoren nach wie vor ihre unterschiedlichen Lebensverläufe und Erlebnisse in ihren Werken verarbeiten. Nur wenige Autoren widmen sich der Patchwork-Familie, weitaus mehr schreiben noch über Familien, wie sie der Idealvorstellung entsprechen. Deutsch schreibende Autoren offenbaren in Texten über das Thema Heimat oft weltweite Wurzeln. Auch der Tod ist schließlich und selbstverständlich Thema in der Gegenwartsliteratur. Kämmerlings kennt sich im Literaturbetrieb sehr gut aus und weiß auch über die Mechanismen der Literaturpreisvergabe, die er kritisch hinterfragt. Er analysiert hauptsächlich Bücher von Autoren, die seit 1990 die literarische Bühne betreten haben. Beigefügt hat er eine Liste mit zehn Büchern, die seiner Meinung nach dem von ihm geforderten Ideal am ehesten entsprechen, also Gegenwart darstellen, kommentieren und aufgrund dieser Qualitäten höchstwahrscheinlich bleiben werden. Eine anregende Lektüre, die literaturversierten Lesern gern empfohlen werden kann.