Anders beten

Wir Menschen verfügen über die ebenso wunderbare wie faszinierende Fähigkeit, uns ganz in einer Sache zu verlieren, in einem Buch, einem Gespräch, in der Lösung einer Denkaufgabe. Darüber können wir alles vergessen, Zeit, Hunger, Durst. So konzentriert Anders beten sollen wir auch beten, meint Madeleine Delbrêl, die französische Katholikin und "Mystikerin der Straße". Und Rosemarie Nürnberg zeigt anhand zahlreicher Texte von Madeleine Delbrêl, dass diese Verbindung von Konzentration und Gebet sehr gut zu den Lebensumständen der Gegenwart passt und gerade nicht religiösen Profis vorbehalten bleiben muss. Delbrêl (1904 - 1964) lebte als Sozialarbeiterin in einem kommunistisch und atheistisch geprägten Arbeitervorort von Paris. Hier wollte sie "Gott einen Ort sichern". "O Gott, wenn du überall bist, / wie kommt es dann, / dass ich so oft anderswo bin?" Damit umschrieb sie bereits in den dreißiger Jahren die Schwierigkeiten mit dem Beten, die sich heute eher noch verschärft haben dürften. Schon damals ließen die Lebensumstände den meisten Menschen nur wenig Zeit zu beten. Da Delbrêl das Gebet jedoch so lebenswichtig erschien wie Essen und Trinken, kam sie zu dem Schluss, dass man eben anders beten müsse. Kurz und intensiv, konzentriert eben. Das Gebet verstand sie als Ausdruck der Liebesbeziehung zwischen Gott und den Menschen. Sie verglich Beten daher mit einem Liebespaar, das sich an getrennten Orten aufhalten muss und einander täglich Briefe schreibt. Mit vergleichbarer Sehnsucht und Intensität müsse sich auch der Beter Gott zuwenden. Heute würde Delbrêl vermutlich von SMS oder E-Mails sprechen, kommentiert Rosemarie Nürnberg, es gehe schließlich darum, mitten in der Banalität des Alltags dem anderen mitzuteilen: Ich denke an dich, ich liebe dich! Dazu genügten kurze Unterbrechungen, die im Alltag immer wieder vorkommen. "Gott hätte sich wohl nicht die Mühe gemacht, uns zu erschaffen", schreibt Delbrêl, "um dann zuzulassen, dass wir ihm gegenüber keine Luft mehr zum Atmen hätten und ersticken müssten. Unser Alltag gewährt uns immer wieder Atemzüge, die Gott uns schenkt: An uns ist es, sie zu entdecken und davon Gebrauch zu machen." Dazu gehört auch, um das Beten zu beten, um die Kraft, die Konzentration und das Vertrauen in Gott, auch darauf, dass meine bescheidenen Möglichkeiten ausreichen, um mit ihm Kontakt aufzunehmen. Vertrauen ist auch für das Bittgebet entscheidend. In einer Zeit, in der so großer Wert auf Autonomie gelegt wird und immer weniger Menschen von Gott etwas erwarten, wird es immer schwieriger, ein Bittgebet sinnvoll erscheinen zu lassen. Delbrêl zeigt, dass es dabei auf grenzenloses Vertrauen in die Liebe Gottes ankommt. Das schließt die Bereitschaft ein, ihm die Freiheit zu lassen, anders zu entscheiden. Das ist viel verlangt - aber drunter ist eine Beziehung zu Gott, die eine Liebesbeziehung sein will, nicht zu haben, davon ist Madeleine Delbrêl überzeugt, nicht zuletzt aus eigener Erfahrung. Madeleine Delbrêl hat ihre Gedanken zum Beten nie als Patentrezept verstanden. Ihr geht es um Erfahrungsaustausch und Anstiftung zu eigener Kreativität in Sachen Gebet. Deshalb ist Rosemarie Nürnbergs Buch als Meditationsbuch gestaltet, das Sehnsucht wecken will nach einer intensiven, zu den eigenen Lebensumständen passenden Gebets- und Liebesbeziehung zu Gott.

Christoph Holzapfel

Christoph Holzapfel

rezensiert für den Borromäusverein.

Anders beten

Anders beten

Rosemarie Nürnberg
Verl. Neue Stadt (2015)

140 S.
fest geb.

MedienNr.: 581674
ISBN 978-3-7346-1032-5
9783734610325
ca. 16,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: Re
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Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats