In der Mitte des Flusses
Im Original heißt dieser Roman "The Disappeard", "Die Verschwundenen". Warum wurde er derart anders und unpassend übersetzt? Zusammen mit dem exotisch-romantisierend anmutenden Cover weckt der deutsche Titel nämlich völlig falsche Vorstellungen. Es geht hier mitnichten um eine hübsche, leicht zu lesende Liebesgeschichte. Es geht vielmehr um das tragische Schicksal der Menschen und Familien in Kambodscha, beginnend mit der Schreckensherrschaft der Roten Khmer über den anschließenden Bürgerkrieg bis hin in das gegenwärtige, noch immer von Krieg und Zerstörung gezeichnete Land. Erzählt wird dies anhand der Liebesgeschichte der jungen Kanadierin Anne Greves und des kambodschanischen Studenten und Musikers Serey. Als sich Anne und Serey in einem Jazz-Club kennen lernen, scheinen sie füreinander die Liebe des Lebens. Dennoch verlässt Serey eines Tages das sichere Kanada und Anne, um seine Familie in Kambodscha zu suchen. Anne hört nie wieder etwas von ihm und macht sich Jahre später auf den Weg, ihren Geliebten wiederzufinden. Das gelingt ihr tatsächlich, und auch die Liebe der beiden hat die Zeit überstanden. Doch Serey hat sich verändert, er verwehrt Anne nun jede Teilhabe an seinem Leben außerhalb des Privaten. So beginnt sie selbst, das Land zu erkunden und erfährt dabei, dass sich Serey in der Opposition engagiert. Als er bei einem Attentat umkommt, will Anne wenigstens seinen Leichnam finden und so beweisen, dass Serey und ihre Liebe wirklich existierten. Doch gerade das wollen die im politischen System Verantwortlichen verhindern: Wessen Geschichte nicht erzählt werden kann, der hat nie gelebt, sein Schicksal ist also nie geschehen. - Dieser Roman ist zweierlei: eine beeindruckende Reportage über den Völkermord in Kambodscha und ein ebenso beeindruckender Appell gegen das Vergessen und für das bewusste verarbeitende Erinnern. (Übers.: Claudia Feldmann)
Dagmar Wolf
rezensiert für den Borromäusverein.
In der Mitte des Flusses
Kim Echlin
Aufbau-Taschenbuch (2011)
atb ; 2690
263 S.
kt.