Ich kann dich hören
Es spreizt sich, es eckt und bockt im Musikstudium von Osman Engels. Als sich sein Vater Suat, ein Konzertgeiger, die Hand bricht, versucht seine Ziehmutter, ihn in die Familiensituation miteinzubeziehen. Das gelingt herzlich schlecht, leidet Osman doch an der fehlenden Unterstützung durch den Vater. Oder auch daran, dass ihn seine Mutter als Kleinkind im Stich gelassen hat. Innerlich kräftig durchgerüttelt, findet Os ein Aufnahmegerät, das offenbar eine junge Frau während eines Irlandaufenthalts mit ihrer gehörlosen Schwester benutzt hat. Sie steht vor der Entscheidung, sich eine elektronische Hörhilfe implantieren zu lassen. Os hört die Aufzeichnungen immer wieder und macht sich ein Bild von Ella. Es kommt zur Rückgabe, doch die junge Frau schaut ihn kaum an, geht schnell weg, findet dann aber hinzugefügte Tracks übers Zuhören. Zwischenzeitlich stellt sich heraus, dass die Mutter die Familie mit zwei Kindern verließ, weil sie über eine Totgeburt nicht hinwegkam. - Der Titel umfasst alle Ebenen des Debütromans: das Hören als Grundvoraussetzung des Musikmachens, das Hören auf die eigene Familiengeschichte und das Hören als Mittel, sich eine eigene Welt - im konkreten Fall ein Jurastudium - zu erschließen. Die Autorin findet mit wenigen Worten griffige Bilder für das, was Ella wahr- und aufgenommen hat, insbesondere für die Musikszenen. Ein Buch für Musikfreunde und Liebhaber plastischer Sprachbilder.
Pauline Lindner
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Ich kann dich hören
Katharina Mevissen
Wagenbach (2019)
163 S.
fest geb.