Die englischen Schwestern

Der Leser sollte sich nicht abschrecken lassen durch den Anfang mit dem im Berliner Dialekt plaudernden, alternden Werner, der von der Vergangenheit, also besseren Zeiten träumt und seiner gegenwärtigen Hartz-IV-Situation entfliehen möchte. Er findet Die englischen Schwestern auf dem Sperrmüll das Reisetagebuch eines Studenten aus dem Jahr 1973, in dem eine blinde alte Dame (die historische Marianne Kirchgessner), eine einstige Virtuosin auf der Glasharmonika, ihr Leben erzählt, das schon zwei Jahrhunderte währt. So berichtet sie z.B., wie sie mit Mozart über eine schwierige Komposition diskutiert, erzählt von anderen bekannten Komponisten und vom Spiel auf der Glasharmonika. Sie übergibt dem jungen Mann Aufzeichnungen, die ihn ins Ende des 18. Jh. versetzen, vor allem nach England mit Lord Hamilton und Admiral Nelson im Krieg gegen Frankreich. In diesen Aufzeichnungen wiederum ist ein Artikel Benjamin Franklins, der über sein Leben berichtet und über seine Erfindung der Glasharmonika. Die titelgebenden englischen Schwestern sind seine Nichten, die das Instrument bekannt machen. Eine Zeit wird beschworen, die vom sphärischen Klang der Glasharmonika verzaubert war. Weitere Themen sind der große Ausbruch des Vesuvs mit seinen Folgen und das Verschwinden eines von der Glasharmonika faszinierten Malers in den neapolitanischen Sümpfen. Ab der Mitte des Buches geht es zeitlich rückwärts, bis der Leser wieder in der Berliner Gegenwart angekommen ist. Der Sprachstil ist der jeweiligen Epoche angepasst. Die Kapitelüberschriften sind nach der chromatischen Tonleiter benannt, in der die Glasharmonika gestimmt ist. Voller literarischer, musikalischer und historischer Anspielungen ist der Roman ein großartiges Puzzlespiel für intellektuell Anspruchsvolle und für Leser, die sich für Musikgeschichte im Allgemeinen und die Geschichte der Glasharmonika im Besonderen interessieren.

Ileana Beckmann

Ileana Beckmann

rezensiert für den Borromäusverein.

Die englischen Schwestern

Die englischen Schwestern

Wolfgang Schlüter
Eichborn (2011)

407 S.
fest geb.

MedienNr.: 566439
ISBN 978-3-8218-5843-2
9783821858432
ca. 21,95 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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