Lügenleben
Die letzte Erinnerung des Erzählers an sein Dorf und seinen Vater ist der Tag seiner Hochzeit, als er mit seiner Braut den Bus besteigt, mit der Auflage, nie mehr zurückzukehren. Erst als sein Vater ihn benachrichtigen lässt, dass er im Krankenhaus liege, bricht er mit diesem "nie" und kehrt zurück. Warum er sein Dorf verlassen musste, erfährt der*die Leser*in erst nach und nach und schließt dabei Bekanntschaft mit einem zutiefst verunsicherten Erzähler, der nirgendwo eine Heimat hat: ein israelischer Araber, verstoßen aus seinem Dorf und fehl am Platz in der neuen Heimat, den USA. Alles, was ihm Identität verleihen könnte - Sprache, Essen, Gerüche, ja sogar Erinnerungen - geht ihm verloren, denn diese schenkt er seinen Kunden, deren Leben er als professioneller Memoirenschreiber aufzeichnet und mit seinen positiven Erinnerungen aus Kindheitstagen ausschmückt. Seine Sorge gilt stets seinen Kindern, die in der neuen Heimat gut zurechtkommen und keine Angst haben müssen, in Israel in Sippenhaft genommen zu werden. - Kashua, israelischer Schriftsteller arabischer Herkunft, versteht es meisterhaft, Dichtung und Wahrheit zu verflechten, um im Kern das Bild eines zerrissenen Lebens in einem zerrissenen Land zu zeichnen und die Lebensrealität arabischer Israelis zu beschreiben. Die deutsche Übersetzung hat Mirjam Pressler noch kurz vor ihrem Tod im Januar 2019 abschließen können. Überaus lesenswert und breit einsetzbar.
Martina Häusler
rezensiert für den Borromäusverein.
Lügenleben
Sayed Kashua
Berlin-Verl. (2019)
271 S.
fest geb.