Das Urteil
Kaum eine Erzählung von Kafka hat solch eine Fülle von Interpretationen nach sich gezogen wie die Geschichte des großen Vater-Sohn-Konfliktes. Schon mit diesem frühen Text treibt der junge Autor seine Neigung zur totalen Verrätselung auf die Spitze. Denn mit fortschreitender Lektüre wächst im Leser auch das Misstrauen: ist der Vater ein böser Alter, ein Dementer oder gar ein hellsichtiger Entlarver des lügnerischen Sohnes? Täuscht der Sohn den Vater oder ist er ein bemitleidenswerter "ewiger Sohn" des allmächtigen Vaters? Der Text ruft auch starke Bilder hervor: das Setting des Hauses am Fluss oder die dunkle Kammer sind äußere wie innere Szenarien. Sich diesen wirkungsmächtigen Bildern zu widmen, ist ein Wagnis, das der Illustrator dieser Graphic Novel einging. Er bedient sich verschiedenster Stilmittel - lyrische Eingangssequenz, Emotionalisierung durch fließende, seitenüberspannende Ornamentik, expressive Aufsplitterung der Panels, groteske Verzerrungen - welche die Reflexionen der Figuren und ihre charakterlichen Wandlungen "textgetreu" abbilden. Das Lob des Kafka-Biografen Reiner Stach im Anhang, hier zeige sich "ein gangbarer Weg der visuellen Deutung dieser Erzählung", da sie nicht bebildere, sondern eine eigenständige Bildsprache erfinde, kann nachvollzogen werden. Mit großer Souveränität hat der Zeichner hier ein Statement gesetzt: auch so kann "Das Urteil" gelesen werden.
Dominique Moldehn
rezensiert für den Borromäusverein.
Das Urteil
nach Franz Kafka. Moritz Stetter
Knesebeck (2015)
45 S. : überw. Ill. (farb.)
fest geb.