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Filmtipp

Ein ganzes Leben

Liebesbrief an eine Tote

Erst schlägt die Natur zurück, dann hört man Goebbels' sich überschlagende Stimme in der Dorfschenke nach dem totalen Krieg schreien. Die jungen Soldaten kehren in Särgen zurück, und Egger wird für kampftauglich erklärt, „um den Kaukasus zu befreien“. Seine Aufgabe besteht darin, ganz allein in der eisigen Kälte Sprenglöcher anzulegen, um im Fall des Abzugs „alles in die Luft zu jagen“.  Auch diese Zumutung übersteht er duldsam. Er kehrt aus russischer Gefangenschaft zurück und setzt in seinem Dorf dort an, wo er aufgehört hatte: bei harter Arbeit und Briefen an Marie, die er in einen Schlitz in ihrem Sarg wirft.

Die Vorlage für „Ein ganzes Leben“ von Hans Steinbichler ist der gleichnamige Roman von Robert Seethaler, der im Jahr 2014 erschienen ist. Die Hauptfigur erinnert entfernt an Voltaires optimistisch gestimmten Märchenhelden Candide, der auf seiner Reise quer durch Europa eine Kette zufälliger Unglücke, Katastrophen und unwahrscheinlicher Rettungen erlebt, dabei nie den Lebensmut verliert und erst nach der Begegnung mit einem Pessimisten an der Menschheit zu zweifeln beginnt. Egger erreicht dieses Stadium nie, auch wenn er kurz vor seinem Tod sein Leben in einer rasant geschnitten Bildersequenz weinend an sich vorbeiziehen lässt und in einem letzten Brief an Marie schreibt, dass er zwar nie an Gott geglaubt habe, aber wenn er nicht so müde wäre, vor reinem Glück lachen müsste.

Nach Lachen ist einem am Ende dieses sonderbaren Lebenswegs gewiss nicht. Steinbichler zeigt verhärtete Menschen, abweisend, wortkarg und kalt, in einer atemberaubenden Landschaft, die sich selbst genug ist und jene hart bestraft, die Hand an sie legen. Erst der Tourismus verspricht nach dem Krieg mehr Leichtigkeit, zumindest für diejenigen, die aus ihm Gewinn zu schlagen wissen. Egger gehört nicht dazu. Er kann dem Wandel nichts abgewinnen. Einer sich anbahnenden Beziehung mit einer Lehrerin geht er aus dem Weg und hängt lieber der Vergangenheit mit Marie nach; ein Eigenbrötler mit großem Herz und Sinn für die Heilkraft der Zurückgezogenheit.

Auf der Suche nach Klarheit

„Der Mensch ist oft allein in dieser Welt“, sagt die Lehrerin einmal zu ihm. Für Egger, der früher die Gesellschaft anderer durchaus genießen konnte, ist Alleinsein keine Strafe, sondern eine Gelegenheit, metaphysische Klarheit zu erlangen. Unter den drei hervorragenden Darstellern, die ihn im Lauf der Zeit verkörpern, formt Stefan Gorski die Figur am stärksten mit seiner wuchtigen Körperpräsenz und der mitreißend emotionalen Spielweise. Bei der durchgehend hohen schauspielerischen Qualität des Films bedürfte es gar nicht der melancholisch-sentimentalen Musik, die mehr irritiert als dass sie die Handlung voranbringt, zumal die ruhige Kamera von Armin Franzen die knappen Dialoge mit Bildern kompensiert, deren Spektrum von schmerzhaft realistisch bis zu naturverbunden romantisch reicht.

Seine Aufnahmen treffen ins Mark der existenziellen Achterbahn, die als Ode an die Berge und den eigenwilligen Menschenschlag inszeniert ist, den diese Gegend hervorbringt. Dass Steinbichler dabei keine Schonfilter einsetzt, weder bei den mitunter bis zur Schmerzgrenze kantigen Figuren noch bei den Folgen der Domestizierung dieser monumentalen Welt, macht „Ein ganzes Leben“ zu einer beklemmenden Passionsgeschichte und zugleich einem Heimatfilm der abgründigen Art. Dazu gehört auch, dass er seine schlafwandlerische Hauptfigur zufrieden in das „kalte Nichts“ entlässt, das ihr einst ein weiser Greis als den Tod vorgestellt hatte. Der Greis selbst kehrt am Filmende als von Touristen bestaunte Eis-Mumie nach vierzig Jahren ins Dorf zurück.


Medientipp

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