Der Spiegelkasten
Ein junger Journalist glaubt, den Job seines Lebens gefunden zu haben. In einem großen Nachrichtendienst soll er die täglichen Zeitungsartikel sichten. Doch als das Unternehmen auf digitale Medien umstellt, muss er den ganzen Tag nur noch auf den Bildschirm starren. Je schlechter es ihm bei seiner Arbeit geht, desto mehr beschäftigt er sich privat mit den Fotoalben seines Großonkels Ismar Manneberg aus dem Ersten Weltkrieg. Nach einer Verwundung lernte Manneberg einen Militärarzt kennen, der ihm einen von ihm zur Heilung Schwerstverletzter entwickelten "Spiegelkasten" vorführt. Wieder geheilt hält Manneberg die Schrecken des Krieges mit seiner Kamera fest. Müde des vielen Tötens und des Anblicks der Toten, kommt er auf eine verrückte Idee: Er schreibt einen Feldpostbrief an eine imaginäre Geliebte, deren Adresse in München er erfindet. Manneberg bekommt mysteriöserweise eine Antwort und es entwickelt sich ein Briefverkehr. Nach Kriegsende führt ihn sein erster Weg ins Hofbräuhaus nach München, wo er die Frau treffen will. Im Deutschland des 21. Jh. vertieft sich der inzwischen entlassene Journalist immer mehr in die Tagebücher und Bilder seines Großonkels. Ein Foto von einem "Spiegelkasten" erweckt sein besonderes Interesse - was soll das sein? Bei seinen Recherchen versinkt er so tief in der Geschichte Mannebergs, dass er seinen Realitätssinn verliert. Vollends aus der Bahn gerät er, als er eine E-Mail von einer Frau bekommt, die offensichtlich ebenfalls Informationen über Manneberg hat. - In zwei Erzählsträngen widmet sich der Autor ("Die Welt ist im Kopf": BP/mp 10/652) zum einen dem im frühen 21. Jh. hinter seinem Monitor vereinsamenden Ich-Erzähler, zum anderen dem drastischen Lebensgemälde des jüdischen Weltkriegsteilnehmers. Dem sprachgewandten Autor gelingen hautnah gezeichnete Psychogramme seiner beiden Hauptfiguren. Eine faszinierende Geschichte, absolut lesenswert.
Günther Freund
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Der Spiegelkasten
Christoph Poschenrieder
Diogenes (2011)
223 S.
fest geb.