Steine & Erden
Vielleicht sind die derzeitigen politisch wie kulturell aufgewühlten Zeiten besonders gut für das Schreiben und Lesen von Gedichten. So kann man sich gegen die immer gleiche und oft so inhaltslose Mediensprache wehren. Kann sich seine Neugierde auf Wörter und Sätze bewahren, die es einem erlauben, einen anderen Blick auf die Welt und auch auf sich selber zu werfen. Mit seinen Gedichten ist Jan Wagner inzwischen zu einem Meister dieser Suche nach einer poetischen Neusicht auf die alltägliche Welt, auf die kleinen Steine und Pflanzen am Rande unserer Aufmerksamkeit geworden. Nur sehr oberflächlich gelesen sind seine Gedichte "schwer verständlich". Liest man sie mehrmals, dann bemerkt man, wie groß das Echo ist, das sie nach der Lektüre hinterlassen. "kriegerdenkmäler. eines in jedem dorf, ein schweres lot,/ ein anker vor der kirche, hinterm markt,/ in ihrer stummen immobilität/ kaum sichtbar, fast vergessen, unbemerkt". Schon in der äußeren Form erkennt man, dass es sich bei den Gedichten von Jan Wagner immer um Erkundungen in einer anderen, uns vielleicht vollkommen unbekannten Sprachwelt handelt. Er schreibt ausschließlich in Kleinbuchstaben und will damit schon seine Distanz zu allem Großen, Pompösen, auch Pathetischen zeigen. Wunderbar ist hier das Gedicht mit dem Titel "streichholz": "eines klappert noch/ In der schachtel, gehütet/ wie ein erster zahn.// dann angerissen/ in dichtestem dunkel: ah!,/ hier bin ich. war ich." Diese Gedichte lesend, bemerkt man beglückt, wie wunderbar reich doch die deutsche Sprache ist. Mit diesen Gedichten kann man sich von den Floskeln der Mediensprache und der Kälte der Cyber-Sprache erholen.
Carl Wilhelm Macke
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Steine & Erden
Jan Wagner
Hanser Berlin (2023)
108 Seiten
fest geb.