Kapoks Schwestern
Werner Kapok kommt nach jahrzehntelanger Abwesenheit zurück ins Elternhaus, in dem jetzt seine Schwester Renate lebt. Die Siedlung Eintracht, einst auf der Ostseite direkt an der Berliner Mauer gelegen, ist auch nach der Wende etwas abgeschieden geblieben und hat sich nach außen nur wenig verändert. Im Haus gegenüber wohnen wie damals die Schwestern Barbara und Claudia, gealterte Jungfern jetzt, und doch wecken sie bei Werner unaufhaltsam Erinnerungen an die lange zurückliegende Kinder- und Jugendzeit, waren die Familien Schaechter und Kapok doch über Jahre aufs engste miteinander verbunden. - Kathrin Schmidt erzählt die Geschichte dieser beiden Familien aus verschiedenen Blickwinkeln. Durch Rückblicke auch auf die Eltern- und Großelterngenerationen ergibt sich ein groß angelegtes Gesellschaftsbild vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Besonderes Augenmerk liegt auf den politischen Umwälzungen in Deutschland im letzten Jahrhundert und auf deren Auswirkungen auf die Menschen in ihrer jeweiligen Situation. Der Leser begegnet vielen Figuren beider Familien aus mehreren Generationen. Die Sprache wirkt manchmal ungewohnt gestelzt, gar absichtsvoll gedrechselt. Die Bilder sind oft merkwürdig, manchmal seltsam ('Was er schrieb, erinnerte Schaechter an die dunkle Spur schmutziger Hühnerfüße auf frisch gefallenem Schnee.'), manchmal schön ('... die Gelegenheit, seine eigenen, mit den Jahren doch sehr fest verzurrten Denkschleifen aufzuziehen und die Bänder eine Weile im Wind der deutschen Wiedervereinigung flattern zu lassen, ohne sie neu verknoten zu müssen'). Geeignet für Leser mit viel Ausdauer und mit besonderem Interesse an deutscher Gegenwartsgeschichte.
Ulrike Braeckevelt
rezensiert für den Borromäusverein.
Kapoks Schwestern
Kathrin Schmidt
Kiepenheuer & Witsch (2016)
442 S.
fest geb.