Das Mädchen, das man ruft
Laura Le Corre ist ein bildhübsches junges Mädchen, das mit 16 die Schule abbricht, um als Model zu arbeiten. Ihr Vater, ein früherer Box-Champion, hat keinen Einfluss mehr auf sie. Seine beste Zeit ist vorbei, die Ehe zerbrochen und er arbeitet jetzt als Fahrer für den Bürgermeister einer bretonischen Kleinstadt. Als Laura sich an diesen wendet, um einen Job zu bekommen, nützt Quentin Le Bars seine Macht dahingehend aus, dass er sie, eigentlich gegen ihren Willen, zu seiner Geliebten macht. Es ist die von ihm erwartete Gegenleistung für Arbeit und Wohnung im örtlichen Casino. Wenige Stunden vor seinem letzten Kampf, in dem Le Corre sich noch einmal beweisen möchte, erfährt er von Quentins Verhältnis zu Laura, bricht mental und später auch im Kampf zusammen. Laura möchte einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben ziehen und gleichzeitig ihren Vater rehabilitieren. Sie zeigt Quentin Le Bars bei der Polizei an, wird aber im Verhör auf ihr scheinbares Einverständnis mit Le Bars Tun hingewiesen. Der ist inzwischen Minister in Paris. Es könnte einen Skandal geben, doch Lauras Vergangenheit als freizügiges Model lässt ihr kaum Erklärungsmöglichkeiten. Dazu kommen gewiefte Anwälte, beeinflussbare Staatsanwälte, Dementis und Presseerklärungen des Ministeriums, die alle Anwürfe Lauras ad absurdum führen. Was bleibt, ist ein seelisch und körperlich gebrochener Vater und eine junge Frau, die gegen ein perfide getaktetes politisches System chancenlos ist. - Eine ernüchternde Sozialstudie über die hemmungslos ausgeübte Macht eines Mächtigen und die Verstrickungen einer jungen Frau, die, ohne es wirklich zu wollen, in von ihr selbst nicht lösbare Abhängigkeiten gerät. Eindrucksvoll und empfehlenswert!
Josef Schnurrer
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Das Mädchen, das man ruft
Tanguy Viel ; aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Verlag Klaus Wagenbach (2022)
154 Seiten
fest geb.