Grandios, dubios, kurios

Thomas Mann und die Religion

von Michael Braun

„Was ist das. – Was – ist das…“. Das sind die ersten Worte in Thomas Manns erstem Roman, den Buddenbrooks. Die achtjährige Tony Buddenbrook stammelt das, auf den Knien ihres Großvaters sitzend, des Konsuls Buddenbrook. Der hat gleich eine Antwort parat: „Je, den Düwel ook, c’est la question, ma très chere demoiselle!“ Der Konsul ist Protestant, aber aufgeklärt und geschäftsmännisch genug, um Tonys Frage aus dem lutherischen Katechismus mit Scharzweißfoto von Thomas Mann um 1900 Thomas Mann um 1900 (© H.-P.Haack - eigenes Foto, Antiquariat Dr. Haack Leipzig, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5343641) einer Mischung aus Französisch, Platt- und Hochdeutsch zu kommentieren. Es hat sich eingebürgert, diese Art von Thomas Manns Erzählen als Ironie zu bezeichnen. Gilt das auch für Thomas Manns Religion? Wen haben wir da eigentlich vor uns: einen abtrünnigen Protestanten, einen anonymen Christen, einen verkappten Gläubigen, einen Gottsucher gar? Was sind die religiösen Melodien in seinem Werk? Und wie lässt sich sein Leben im Lichte der Religion betrachten?

Die Forschung ist sich da weitgehend einig. Manns Wissen ums Christentum gilt als spärlich, seine exegetische Grundlage einseitig, sein „Kultur-Christentum“ aus zweiter Hand. Doch Thomas Mann hatte eine Religion. Seit 1940 stand er der unitarischen Kirche nahe, einer amerikanischen Bewegung, die von einer harmonischen Ordnung der Dinge mit einem nicht-personalen Gott ausging. Der Göttinger Germanist Heinrich Detering ist dieser Spur gefolgt. In seinem Buch über Thomas Manns amerikanische Religion (2012) führt er aus, dass ein unitarischer Geistlicher Manns jüngste Tochter traute und seinen Bruder Heinrich bestattete; seine vier Enkel wurden in der First Unitarian Church getauft. Mann schrieb für die Gemeindebriefe der Kirche und sprach als Gastredner auf der Kanzel.

Auf Manns Schule, dem Lübecker Katharineum, wurden Bibelworte, Katechismus und Historien memoriert. Das bekommt eine von Thomas Manns feinsten, aber auch tragischsten Figuren zu spüren, Hanno Buddenbrook (im zweiten Kapitel des elften Teils). In der Religionsstunde beim Oberlehrer Bollerstedt, der eine Predigerlaufbahn seines Stotterns und seiner Liebe zum Wohlleben wegen ausgeschlagen hat, geht es um den Aufbau und den Sinn des Buches Hiob. Gute Noten bekommen die Schüler, die genau erzählen können, was Hiob an Besitz gegeben und genommen wurde. Aber Hanno träumt vor sich hin und betet nur, dass diese Stunde nie aufhören möge.

Auch hier ist Ironie am Werk. Es geht um den Verfall des christlichen Weltbildes in der Moderne. Dieser Autoritätsschwund der Religion ist schon im Untertitel des Romans verzeichnet: „Verfall einer Familie“. „Dominus providebit“: Das stolze Motto, das über dem Buddenbrook-Haus prangt, heute denkmalgeschützt in der Lübecker Mengstraße zu sehen, wird ad absurdum geführt. Denn es kommt eben nicht dazu, dass der Herr alles zum Guten richtet. Hannos Vater, auch hochgeachteter Konsul, verliert ein Großteil seines Vermögens beim Spekulieren. Bei seiner Schopenhauer-Lektüre lernt er, dass von der „besten aller denkbaren Welten“ mit „spielendem Hohne bewiesen ward, daß sie die schlechteste aller denkbaren sei“.

Allerlei Kurioses hat Thomas Mann in diesem Roman, für den er 1929 den Literaturnobelpreis erhalten sollte, auch den Pastören darin vermacht. Sie tragen sprechende Namen (wie „Wunderlich“ und „Tränen-Trieschke“), erschleichen sich Mahlzeiten, dienen der Familien- und Firmenräson (wie „Tiburtius“ und „Kölling“). Pastor Pringsheim beschönigt das elendigliche Sterben der Konsulin, weil doch „das Wort ‚Ende‘ ein Beiwort haben muß“, als „sanftes Ende“. Und der Missionar Jonathan bekommt von Tony, die er gefragt hat, ob sich deren Stirnlocken mit christlicher Demut vereinbaren lassen, die Antwort, er solle sich gefälligst um seine eigenen Locken kümmern.

Portal des Buddenbrookhauses
Buddenbrookhaus in Lübecks Mengstraße (© Kresspahl, CC BY-SA 3.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)

Von Gott bis Düwel

Religiöse Formeln sind allgegenwärtig in Thomas Manns Romanen, von „Gott bewahre“ bis „um Gottes Willen“. Da verwundert es nicht, dass es auch mit dem Teufel zugeht. Schon der alte Konsul hat ihn, wie gesagt gleich am Anfang der Buddenbrooks, als „Düwel“ benannt. Bis zu den dämonischen Teufelsfigurationen im Zauberberg (1924) – wo Hermann Kurzke für den „Satan“ 80 Belegstellen und für die „Hölle“ 22 zählt – und im Doktor Faustus (1947) ist es noch weit. „Hol mich der Teufel“, beschwert sich der Weinhändler Köppen über den weiten Weg vom Speisesaal der Buddenbrooks bis zum Weinkeller: Auf dem Haus liegt offenbar doch kein Segen. Wortgleich äußert sich der alte Konsul über seine neugeborene Enkelin: Ihr ist kein langes Leben beschieden. Der Teufel taucht als grimassierender Bankier und als tückisch-demütiger Makler auf.

Ironisch dreht sich auch Manns Zauberberg, den der S. Fischer Verlag zum hundertsten Jubiläum in einer Sonderausgabe herausgebracht hat, um Gott und die Welt – und um das Teuflische. Der Roman, dem Mann zutraute, ein „religiöses Buch“ zu sein, lässt seinen Helden in einem alpinen Luxussanatorium „Kreuz, Gruft und Tod“ durchlaufen, an spiritistischen Sitzungen teilhaben und mit zwei konkurrierenden Erziehern über die Rolle von Religion und Kultur für Politik und Gesellschaft räsonieren. Dieser Hans Castorp ist ein Sinn- und Gottsucher wider Willen, Ausgaben des Papstromans "Der Erwählte" ein stiller Abenteurer, der alle Erfahrungen und Belehrungen auf kuriose Weise kontert. 

Heinz Strunk hat in seinem jüngsten Roman Zauberberg 2 (2024) diese Geschichte eines religiösen Verfalls fortgeschrieben. Seine Figur Jonas Heidbrink, ein Startup-Unternehmer, erfährt die Himmelsrichtung bloß auf einem armseligen Hochsitz. Seine Zeit in einem maroden mecklenburgischen Sanatorium, wo fast alle anderen auf Heiligabend abreisen, endet als „Inferno“.

Keine Frage: Thomas Manns Religion ist in allen seinen Werken greifbar, von den frühen Novellen Gladius Dei (1902) und Beim Propheten (1904) über die Tetralogie Joseph und seine Brüder (1933-1944) bis zum Papst-Roman Der Erwählte (1951). Was dieses Buch so interessant macht, ist sein Sitz im Leben. Am 29.4.1953 hatte der Autor eine „Spezial-Audienz“ bei Pius XII. „Allein-Empfang“ im Stehen, notiert das Tagebuch, und zur „Verabschiedung ... Darreichung der Hand“ und Küssen des „Rings des Fischers“. Der Weg zum Papst durch die Säle der römischen Kurie bis ins innerste Zimmer, vorbei an den „Palatinischen Hellebardieren, Nobelgardisten, Türstehern und roten Sänftenträgern“ wird im Schlusskapitel „Die Audienz“ des Erwählten minutiös und bewundernd beschrieben. Mit „Rührung“ gedachte Mann dieses Ereignisses und hielt, wie er an den katholischen Kollegen Reinhold Schneider schrieb, seine Audienz als „Luther-Sproß, der übrigens Luther nicht recht leiden kann“, in Ehren. 

Kein ungläubiger Thomas

Religion bei Thomas Mann: Das ist Ritual und Zeremonie, Arbeit an privater Demut und öffentlicher Verantwortung. In jedem seiner großen Romane werden religiöse Feste gefeiert, es wird gebetet und geflucht, es werden Aberglauben und Pharisäertum bloßgestellt. Das Schreiben von Romanen bekommt so für Thomas Mann etwas Religiöses: Im Erzählen würden, so sagte er einmal, die „böse[n] und stumme[n] Dinge“ gutgemacht. Und dieses Erlösungswerk ist es, mit dem der Künstler sich selbst ‚heiligspricht‘. Mit anderen Worten: Die Kunst wird Heilmittel und Wunderwerk, und der Autor, der in Sebastian seinen Lieblingsheiligen sah, weil dieser „in stolzer Scham die Zähne aufeinanderbeißt und ruhig dasteht“, während ihn die Pfeile durchbohren, ist ein Schöpfer, der seine Figuren ins Werk ruft und damit beseelt.

So wie Tony Buddenbrook, seine vielleicht schönste Romanfigur. Vom Leben gebeutelt, verarmt, zweimal geschieden, sitzt sie am Ende der Buddenbrooks mit anderen Frauen bei einer Totenklage zusammen. Da erhebt sich auf einmal die alte Pensionsleiterin Sesemi Weichbrodt. Ihrem Namen zum Trotze sagt sie, „eine kleine, strafende, begeisterte Prophetin“, etwas, das den Verfall der Religion nicht aufhält, aber von kleinmütiger, horizontaler Weltbetrachtung abgrenzt: „‘Es ist so!‘“ Dieses Wort ist Thomas Manns künstlerische Antwort auf die religiöse Frage, was es heißt, sich in einer unfriedfertigen und polykritischen Zeitenwende nach oben zu orientieren.

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Michael Braun

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Michael Braun

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Empfohlene Literatur

  • Heinrich Detering: Thomas Manns amerikanische Religion. Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2012.

  • Hermann Kurzke: Thomas Mann. Ein Porträt für seine Leser. München: C. H. Beck Verlag, 2009.

  • Thomas Mann: Der Zauberberg. Roman. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2024.

  • Niklaus Peter und Thomas Sprecher (Hrsg.): Der ungläubige Thomas. Zur Religion in Thomas Manns Werken. Frankfurt a.M.: Klostermann, 2012.

  • Heinz Strunk: Zauberberg 2. Hamburg: Rowohlt, 2024.