von Michael Braun
Kairos ist der Gott des Glücks. Und der Titel von Jenny Erpenbecks jüngstem Roman (siehe Medienliste am Ende des Beitrags). 2021 ist das Buch erschienen und merkwürdigerweise durch die Raster der deutschen Shortlists gefallen. Nun ist der Autorin dank ihres Romans ein seltenes Glück zuteilgeworden: Als erste deutsche Schriftstellerin hat sie den International Booker Prize erhalten. In der Londoner Tate Modern Galerie nahm Jenny Erpenbeck diese renommierteste Auszeichnung der englischsprachigen Literaturwelt entgegen, die sie sich mit ihrem Übersetzer Michael Hofmann teilt. „Meisterlich“, urteilte die Jury, habe ihr Roman Kairos „Generationen prägende politische Ereignisse durch die Linse einer verheerenden Liebesbeziehung gebrochen und hinterfragt so das Wesen von Schicksal und Handlungsmacht“.
Die 1967 geborene Jenny Erpenbeck stammt aus einer Literaturdynastie. Ihre aus Lemberg stammende Großmutter Hedda Zinner (1904-1994) schrieb Romane, ihr Großvater Fritz Erpenbeck war Krimiautor und gründete die Zeitschrift Theater der Zeit, ihr Vater John ist Physiker und Philosoph, ihre Mutter Doris Kilias arbeitet als Übersetzerin.
Nach einer Buchbinderlehre und Tätigkeiten als Requisiteurin und Ankleiderin an der Staatsoper Berlin studierte Jenny Erpenbeck in Berlin Theaterwissenschaften und Musiktheaterregie, u.a. bei Werner Herzog und Heiner Müller. 1991 arbeitete sie zunächst als Regieassistentin und inszenierte danach Aufführungen für Oper und Musiktheater in Berlin und Graz. Sie lebt als freie Autorin und Regisseurin in Berlin, ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und hatte eine Gastdozentur an der Washington University in St. Louis inne. Dort und in England stehen ihre Werke hoch im Kurs. Den Vorgängerpreis des Booker Prize hatte sie bereits 2015 für The End of Days erhalten, die Übersetzung ihres Romans Aller Tage Abend.
Spezialistin für Lebensläufe
Dieser Roman bedeutete, nach Auszeichnungen beim Bachmann-Wettbewerb (2001) und dem Doderer-Literaturpreis (2008), den Durchbruch für die Autorin. Sie erhielt dafür den Breitbach-Preis und den Evangelischen Buchpreis. Aller Tage Abend (2013) ist ein munter verschachtelter Generationenroman, der das bekannte Sprichwort in fünf Alternativlebensgeschichten auf den Kopf stellt. Es ist noch nicht aller Tage Abend für einen Säugling, der in der ersten Geschichte Anfang des 20. Jahrhunderts in Lemberg erstickt, aber hätte gerettet werden können, sodass die Figur in der zweiten Geschichte in Wien als junge liebende Frau weiterleben kann, in der dritten Geschichte als verratene Kommunistin wiederaufersteht, in der vierten in der DDR als Übersetzerin gefeiert wird und in der letzten als vergessene alte Frau im Pflegeheim auftritt. Familienmelodram, Sozialdrama, politische Tragödie, Ankunftsroman, Alzheimer-Erzählung: die einzelnen Geschichten runden sich zur Chronik eines Jahrhunderts von Gewalt und Sehnsucht.
Es waren die Jahre von Mauerfall und Wendezeit, denen Jenny Erpenbeck ihre epische Inspiration verdankt: Die Freiheit des wiedervereinigten Deutschlands sei ihr ja nicht geschenkt worden, sagte sie in ihrer ersten Bamberger Poetikvorlesung (abgedruckt in ihrem Band Kein Roman. Texte und Reden, 2018), „sie hatte einen Preis, und der Preis war mein gesamtes bisheriges Leben.“ Aus dem, was bislang Vergangenheit genannt worden war, wurde nun Gegenwart. Aus dem Alltag wurde „ein überstandenes Abenteuer“, alte Gepflogenheiten verwandelten sich in Attraktionen. Jenny Erpenbeck machte etwas aus Lebensläufen: Romane, die findig, gründlich, spannend, temporeich und mit Situationswitz erzählt sind. Und Fragen stellen, die in religiöse Bereiche ragen: Sind unsere Lebensgeschichten das einzige Gepäck, das uns niemand wegnehmen kann? Wozu braucht man eine Grenze? Warum sind wir vergänglich? Was ist ein Übergang? Wozu sind Aufgaben gut, die sich nicht lösen lassen? Das erklärte sie dem saarländischen Abiturjahrgang 2014.
Verstehen – Erklären – Erzählen
Erpenbecks bekanntester Roman konjugiert im Titel ein deutsches Verb: Gehen, ging, gegangen. Das 2015 erschienene Buch, das als erster Flüchtlingsroman der deutschen Literatur gelten darf, ist mitten in die Situation der Asylbewerber und Zuwanderer hineingeschrieben, die vor zehn Jahren in Deutschland ankamen. Erzählt wird von afrikanischen Flüchtlingen, die in einem Berliner Asylbewerberheim auf engstem Raum und mit geringsten Mitteln leben. Richard, verwitweter Philologe im Ruhestand, kümmert sich um die Ankömmlinge. Er besucht Versammlungen, geht auf die Zeltplätze am Oranienplatz, hört und sammelt die Geschichten der Geflohenen – und vergleicht sie mit den klassischen Mythen von Flucht und Verfolgung.
Mit Richard, der verstehen will, ohne erklären zu müssen, hat Jenny Erpenbeck einen klugen Lebenslauferzähler gefunden. Sein Erzählen ist das Beste, was man tun kann, auch wenn keine Patentlösungen bereit liegen. Gehen, ging, gegangen ist ein erhellendes und überaus lesenswertes Völkerwanderungsbuch aus unserer Zeit und für unsere Zeit.
Und der jüngste Roman Kairos (2021): Hinter der amour fou zwischen einem verheirateten älteren Schriftsteller und einer 19-jährigen Studentin, die da mit all ihrem ungeheuren Glück und Unglück erzählt wird, steht eine dichte Milieustudie aus der DDR-Kulturszene Ende der 1980er-Jahre. Mit dem Staat verschwindet die Liebe, die ethischen und politischen Koordinatensysteme verschieben sich. Davon erzählt Jenny Erpenbeck in Überblendungen von Intimem und Politischem, in kurzen Takten, aufmerksam auf das Glück, dem man, um es beim Schopfe zu ergreifen, ins Gesicht schauen muss. Denn Kairos, der Gott des glücklichen Augenblicks, ist kahlköpfig und trägt nur eine Stirnlocke.
Der Autor des Beitrags
Rezensent im Fokus
Michael Braun
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