von Michael Braun
Können wir über Kafka lachen? Oder gar mit ihm? Das ist schwer vorstellbar angesichts der Flut an Deutungen, die seit seinem Tod am 3. Juni 1924 über uns hereingebrochen ist. Von den Zeitgenossen wurde der 1883 in Prag geborene Kafka eher als Geheimtipp gehandelt. Dann verwandelte ihn sein Freund Max Brod in einen verkappten religiösen Dichter. Jede Epoche hat fortan ihren eigenen Kafka entdeckt: die Existentialisten den Kämpfer gegen das Nichts, die Psychoanalyse den ewigen Sohn, die Surrealisten einen grotesken Metaphysiker, der Strukturalismus den Meister der Bruchstücke, die Modernekritiker einen Propheten der Unmenschlichkeit bürokratischer Macht.
Seit 1938 lauert das Wort „kafkaesk“ in vielen Sprachen der Welt und hat es längst in den „Duden“ geschafft. Aber wofür steht das Ungeheuerliche, Rätselhafte, Unverständliche, das in dem Wort „kafkaesk“ steckt? Fest steht immerhin: Kafka ist nicht unbedingt kafkaesk. Kafkaesk: das ist zuallererst ein Phänomen der Wirkung, die Kafkas Erzählen bei den Lesenden auslöst. Und das galt womöglich auch für ihn selbst, wenn er in Tagebuchnotizen und Briefen davon schreibt, was Lesungen seiner Geschichten ausgelöst haben: Ohnmachten (bei einer Vorlesung aus der „Verwandlung“) und Lachanfälle.
Anmerkung der Redaktion:
Kafka ist einer der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller, seine Erzählungen gehören zum Kanon der Weltliteratur. Trotzdem dürfte das Kafka-Jahr 2024 nur für größere KÖBs relevant sein oder da, wo es entsprechend literarisch interessierte Lesende gibt; vielleicht knöpft sich ja auch ein Literaturgesprächskreis eine der Erzählungen vor. Wir werden zu einigen der von Michael Braun vorgestellten Titel im Laufe der nächsten Wochen Besprechungen veröffentlichen. Welche das sind, geht aus der Liste am Ende des Beitrags hervor, den wir um einige weitere empfehlenswerte Titel ergänzt haben.
Lachen mit Kafka?
Deshalb hat Kafka komische Seiten. Zuletzt hat der amerikanische Autor David Foster Wallace sich darauf berufen. Er hat 1998 in seinem New Yorker Vortrag „Laughing with Kafka“ für einen ironischen Kafka geworben. Der Postmoderne, die sich zu Tode amüsiere, sei Kafka mit seinen grotesken Erzählungen vorweggekommen. Denn wie komisch ist es, wenn sich statt des fürsorglichen Sohnes auf einmal der altersschwache Vater aufrafft, um jenem „Das Urteil“ zu sprechen? Spielt dem Handlungsreisenden Gregor Samsa sein Unbewusstes einen Streich, wenn er am eigenen Körper „Die Verwandlung“ in einen Käfer erfährt? Was hat es mit dem Hungerkünstler auf sich, der seinen Job so gut macht, dass ihn am Ende keiner mehr bemerkt? Und was ist mit dem maritim überforderten Poseidon, der seinen Burnout bejammert?
Kafka hat offenbar gerne gelacht. Als er 1910 zum Konzipisten der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherung befördert wurde, hat er seinem Vorgesetzten ins Gesicht gelacht. Seiner zweimaligen Verlobten Felice Bauer bekannte er, er lese „höllisch“ gerne vor und sei „als großer Lacher“ bekannt. Die fand das womöglich nicht lustig, weil ihr Kafka ellenlange, gedankenverhedderte Liebesbriefe mit Schreibmaschine und auf dem Briefpapier seiner Firma schrieb. Der österreichische Zeichner Nicolas Mahler hat das in seiner Comic-Biographie „Komplett Kafka“ illustriert. Wir sehen da eine schlicht gezeichnete Figur mit schwarzem Mantel, die sich zu einer erschrockenen Figur hinabbeugt: „Ich kann auch lachen, Felice, zweifle nicht daran.“
„Kafka für Boshafte“?
Kafkas Humor ist ein „unbehagliches Lachen“ (Max Brod). Es kann uns ereilen, wenn wir uns über die Absurditäten des Lebens wundern. Ob es uns dadurch hilft? Der Theologe Karl-Josef Kuschel lässt Kafka in seiner kleinen Studie „Auf dem Seil“ tanzen. Der Autor lässt seine Figuren, merkwürdige Zwischenwesen, ins Leere baumeln. Es sind „Gestalten ohne große Fallhöhe“: Väter und Söhne, Tiermenschen, Märtyrer und Beter, und allen fehlt eine Bindung in religiös geprägten Milieus. So der Beter, der zwar kniet, aber in die Kirche nur gekommen ist, um ein Mädchen zu stalken, in das er sich verliebt hat. Kuschel deutet das als „Gleichnisgeschichten“, die unsere Verblüffungsresistenz angreifen.
Der Nobelpreisträger Jon Fosse hat in der Anthologie „Kafka gelesen“ einen tragikomischen Kafka vorgestellt. Als Fosse Kafkas Erzählungen auf Hörbüchern lauschte, um sie – erstmalig übrigens – ins Neunorwegische zu übersetzen, fielen ihm die fließende Sprache und die Musikalität von Kafkas „Schriftstimme“ auf, die das Schlimmtragische nah ans Komische schmiegt.
Auch Thomas Lehr und Esther Kinsky nähern sich auf ungewöhnliche Weise Kafka an. Thomas Lehr stellt sich Kafkas Schere vor: als ein Instrument, das trennt und zugleich vereint: Der Schnitt öffnet Hoffnung jenseits der Aussichtslosigkeit und entkoppelt die Nabelschnur vom seidenen Faden, an dem das Leben hängt. Esther Kinsky hatte als Kind auf einem Prag-Foto eine Katze entdeckt. Die wird in einer Erzählung zum Leben erweckt: „Kafkas Katze“ enthüllt anhand der Katze, die Kafka während seines Aufenthalts im nordwestböhmischen Zürau aus der Nachbarschaft zulief, die Bipolarität seines Schreibens: zwischen Widerwillen und Glücksgefühl, Kontrollzwang und Zuneigungssehnsucht, Abscheu und Mitleid.
Lachen und die Wut des Verstehens
Am Rande der Verzweiflung ist das Lachen derer, die in ihrer Wut des Verstehens mit Kafkas Geschichten hadern. Der Autor scheint diese Wirkung seines Storytellings wohlbedacht zu haben. Der Münchner Literaturwissenschaftler Oliver Jahraus hat (in seinem praktischen Büchlein „Kafka“ auf 100 Seiten) dies an der kurzen Erzählung „Gibs auf“ illustriert. Ein Mann geht da zum Bahnhof, es ist frühmorgens, und offenbar ist er deutlich zu spät dran. Unsicher fragt er einen Schutzmann nach dem Weg. Der sagt aber bloß „Gibs auf“ und dreht sich weg, „so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein bleiben wollen“. Eine Erzählung über verlorene Ordnung und Lebenswege? Kafka lässt uns am Ende der Erzählung allein: wie den Hüter der Ordnung, dessen Reaktion wir nicht sehen; was uns bleibt, ist ein vielleicht tröstlicher Hinweis auf ein einsames Lachen.
Kafka im Film: Ghostwriter und geschriebene Küsse
Kafkas Leben ist Stoff auch für zwei filmische Präsentationen über den Prager Autor. Das Regie-Duo Georg Maas und Judith Kaufmann widmet sich in ihrem von Michael Kumpfmüllers gleichnamigem Roman inspirierten Film „Die Herrlichkeit des Lebens“ dem letzten Lebensjahr Kafkas und seiner Beziehung zu Dora Diamant. Kafka lebte da in Berlin, schwer lungenkrank, aber produktiv und auf die Widersprüche zwischen Leben, Lieben und Schreiben versessen. Die Geliebte feierte den Realitätssinn, er verstrickte sich in Möglichkeitsformen. Aber was für welchen! Dora Diamant erinnert sich, wie Kafka im Steglitzer Park ein kleines Mädchen traf, das den Verlust seiner Puppe beweinte. Kafka ging nach Hause und schrieb im Namen der Puppe dem Mädchen einen Brief, den er ihr tags darauf vorlas: die Puppe mache gerade eine Reise, sie wolle Abenteuer erleben und andere Leute kennenlernen. Die Fiktion wurde für das Mädchen zur Wahrheit, nur: nach drei Wochen musste ein Ende her. Kafka erfand eine Hochzeit der Puppe, die der von Barbie und Ken alle Ehre gemacht hätte. Er „hatte den kleinen Konflikt eines Kindes durch die Kunst gelöst“, wie Dora Diamant sagt. Kafka also als ein Autor, der nicht von der Literatur leben wollte, sondern für sie – ja: als geradezu als Literatur leben wollte: „Ich bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes“, schreibt er einmal. Kein Zufall, dass er zweimal eine Romanfigur K. taufte.
Ein Biopic ist auch die von ARD und ORF produzierte Fernsehserie „Kafka“, die ebenfalls im März startet. David Schalko führt Regie, Daniel Kehlmann hat das Drehbuch geschrieben und sagt zur Aktualität des Autors: „Franz Kafkas Alpträume sind unsere tägliche Realität: In seinen dunklen und doch komischen Visionen hat er die Welt erahnt, in der wir alle jetzt leben.“ Die sechs Folgen der Serien stellen Episoden aus Kafkas Leben vor: das Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Vater, von dem er Anerkennung erhoffte und Ablehnung bekam, zu seinen Frauen, Felice Bauer, Milena Jesenská und Dora Diamant, denen er „geschriebene Küsse“ zuhauchte, und zu Max Brod, dem wir die Überlieferung von Kafkas Werken verdankten.
Handschriften vor Gericht
Denn Brod war es, der Kafkas Manuskripte mit dem letzten Zug 1939 im berühmtesten Koffer der Literaturgeschichte aus Prag nach Palästina rettete. In Jerusalem stand dieser Nachlass im Juni 2016 vor Gericht: „Kafkas letzter Prozess“. Die Tochter von Max Brods Sekretärin, Eva Hoffe, war zugegen. Hinter diesem Prozess stehen andere Fragen: Ist Kafka ein jüdischer Autor? Wem gehört sein Werk? Und wie hätte sein bester Freund und größter Promotor mit seinem letzten Willen, die unpublizierten Texte zu vernichten, umgehen sollen?
So heiter das Schreiben Kafkas sein mag, so ernst war es doch um sein Leben bestellt. Rüdiger Safranski hat dafür in seinem Buch die schöne Formel „um sein Leben schreiben“ gefunden. Es ging Kafka um die Beschreibung des Kampfes, den er gegen die Anforderungen des Lebens führte: amtliche Bürokratie und väterliche Bevormundung, Einsamkeit und Familie, die Doppelbindung an Schrift und Geliebte, Glauben und Zweifel. Zeitweise wohnte und schrieb Kafka in einem Durchgangszimmer im Elternhaus, zeitlebens kam er nur selten aus Prag heraus. Sein Erzählen ist glasklar, die Deutung aber unabsehbar. Deshalb lohnt es immer wieder ihn zu lesen, auch mit Hilfe der jüngsten Kafka-Bücher. Denn Lachen mag zwar befreien. Kafka aber nicht. Seine Romane und Erzählungen fesseln uns – als abenteuerliche und „intensive Leseerfahrung“, wie der kundigste unter den Kafka-Biographen, Rainer Stach, im Nachwort zu seiner Ausgabe des Romans „Der Process“ schreibt. Oder, um Kafka das letzte Wort zu geben: „Man lernt das Matrosenleben nicht durch Übungen in einer Pfütze …“.
Neuerscheinungen im Kafka-Jahr
Benjamin Balint: „Kafkas letzter Prozess. Ein Nachlass und seine Geschichte“ (S. Fischer)
„Kafka gelesen“. Hrsg. von Sebastian Guggolz (S. Fischer) – (noch nicht besprochen)
Oliver Jahraus: „Franz Kafka. 100 Seiten“ (Reclam)
Karl-Josef Kuschel: „Auf dem Seil: Franz Kafka“ (Patmos)
Thomas Lehr: „Kafkas Schere. Zehn Etüden“ (Wallstein)
(Nicolas) Mahler: „Komplett Kafka“, „Kafka für Boshafte“ (Suhrkamp)
Rüdiger Safranski: „Franz Kafka. Um sein Leben schreiben“ (Hanser) (bisher nur das Hörbuch besprochen, s.u.)
Rainer Stach (Hrsg.): „Franz Kafka: Der Process. Roman“ (Wallstein)
Marcus Steinweg und Sonja Dierks: „Kafka“ (Matthes&Seitz)
Der Autor des Beitrags

Rezensent im Fokus
Michael Braun
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