Das Kind in der Krippe
Alle Jahre wieder weist im Krippenspiel ein Wirt die hochschwangere junge Frau und ihren Begleiter ab. In manchen Varianten bietet er ihnen einen Platz im Stall an, außerhalb von Bethlehem. Auch viele Bilderbücher erzählen die Weihnachts-geschichte so. Doch was, wenn Lukas eine ganz andere Geschichte erzählt hat, die aber über Zeiten und Kulturen hinweg anders verstanden wurde und wird, als Lukas‘ Zeitgenossen sie gehört haben? Die Theologin Annette Jantzen hat sich gängige Motive wie Jungfrauengeburt, Engel und Krippe aus den Weihnachtsgeschichten der Evangelisten Matthäus und Lukas vorgeknöpft und sich gefragt, wie deren erste Hörer*innen sie wohl verstanden haben. Im Eingangskapitel stellt sie grundlegenden Einsichten aus der theologischen und religionswissenschaftlichen Forschung zusammen und macht klar: Matthäus und Lukas erzählen nicht, wie es wirklich gewesen ist. Das konnten sie nicht – und das war auch nicht ihre Absicht. Die beiden „Weihnachtsgeschichten“ sind keine Reportagen, sondern Literatur, Erfindungen, mit denen die beiden Autoren vermitteln wollten, wer dieser Jesus von Nazareth für sie und für die ersten Jesusgläubigen gewesen ist. Sie verwendeten dazu gängige Motive ihres Kulturraumes und natürlich aus der Hebräischen Bibel. Eines dieser Motive ist die bis heute unter den christlichen Kirchen und über sie hinaus in unserer naturwissenschaftlich und (angeblich) rational geprägten Kultur umstrittene Jungfrauengeburt. Jantzen bezeichnet sie mit Blick auf den religionswissenschaftlichen und exegetischen Befund als „Einhorn der Antike“. Jungfrauengeburten gehörten zum kulturellen Bilderbestand der Antike, der sie als ein so reales Phänomen kannte wie wir heute Einhörner. Die Autoren der Weihnachtsgeschichten konnten damit in Worte fassen, „dass es einen wirklichen Neuanfang geben kann, dass es Beziehungen ohne Besitzverhältnisse geben kann, dass in einem Menschenleben wirklich Gottes Gegenwärtigkeit aufleuchten kann.“ Ein anderes Kapitel gilt der Krippe, die heute nicht ohne Stall und nicht ohne einen Wirt gedacht werden kann. Das Schlüsselwort für unser kulturelles Verständnis ist „Herberge“. Jantzen erklärt, dass es zur Zeit des Lukas damit etwas völlig anderes auf sich hatte, als wir heute annehmen, und schreibt eine „Ehrenrettung für den Wirt“. Nur so viel sei verraten: Lukas hat keine Geschichte der Ausgrenzung geschrieben, sondern eine von Solidarität und Geborgenheit. Annette Jantzen erschließt die ersten Kapitel der Evangelien nach Matthäus und Lukas neu, griffig, mit Witz und theologisch nicht ohne Anspruch. Menschen, die sich mit der herkömmlichen Lesart der Weihnachtsgeschichten schwertun, finden hier einen hilfreichen Zugang, theologisch und historisch Neugierige sowieso. Allerdings wird es nach der Lektüre auch schwieriger sein, die vertrauten Szenen an der Krippe und in Krippenspielen so zu belassen. Wer schreibt die „Herbergssuche“ noch um? (Religiöses Buch des Monats Dezember)
Christoph Holzapfel
rezensiert für den Borromäusverein.
Das Kind in der Krippe
Annette Jantzen
Herder (2024)
139 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Unter Heiden
Als im März 2023 im SZ-Magazin ein Text mit dem Titel "Unter Heiden" erschien, in dem der Journalist Tobias Haberl seine Erfahrungen als Katholik in einem zunehmend areligiösen Umfeld beschrieb, waren die Reaktionen darauf weitaus größer als Autor und Zeitung erwartet hatten - und überwiegend positiv. Aus dieser Erkenntnis, mit seinem Essay ein Lebensgefühl angesprochen zu haben, das offenbar viele Leserinnen und Leser teilen, entstand nun ein gutes Jahr später das gleichnamige Buch. Es drückt das Unbehagen darüber aus, dass einer zunehmend entchristlichten Gesellschaft das Wesentliche verlorengeht - ohne dass sie das zu bemerken scheint. Haberl will aber nicht nur denen Mut machen, die immer noch gläubig sind, sich aber oft nicht mehr trauen, das auch zu bekennen. Er möchte gerade auch die Ungläubigen - eigentlich keine "Heiden", wie der Autor selbst einräumt - ansprechen und ihnen zeigen, auf was sie, ohne es zu wissen, eigentlich verzichten. "Ich glaube, dass der moderne Mensch darunter leidet, dass er seinen Glauben verloren hat, ohne dass er es merkt. Ich glaube, dass er sein Glück in falschen Dingen und an falschen Orten sucht. Ich glaube, dass er Sehnsucht nach etwas hat, das er sich nicht erklären kann. Um ihm zu zeigen, was das sein könnte, habe ich dieses Buch geschrieben." Seine Überlegungen vermitteln keine im engeren Sinne theologischen Inhalte, sondern sind Reflexionen seiner ganz persönlichen Glaubenserfahrungen - und seiner Erfahrungen, wie das nicht religiöse Umfeld auf seinen Glauben reagiert. Er schildert seine katholische Kindheit in Niederbayern, wo der Glaube noch als Selbstverständlichkeit angesehen wurde - mit allen Vor- und auch Nachteilen, die diese Situation hatte. Dass er persönlich jedoch in der Kirche nur gute Erfahrungen gemacht und sich irgendwann dann auch bewusst für den Glauben entschieden habe. Er erzählt von mehr oder weniger regelmäßigen Messbesuchen, von einem ebenso herausfordernden wie bereichernden einwöchigen Klosteraufenthalt, von seinen Erfahrungen in Beruf und Freundeskreis, wenn er sich als Katholik zu erkennen gibt, von seinen Tröstungen durch den Glauben wie von seinen Zweifeln. Haberl versteht durchaus, dass sich infolge des Missbrauchsskandals viele von der Kirche abwenden, will aber deren positive Seiten nicht einfach unterschlagen sehen. Und daran erinnern, dass es in der Kirche vor allem darum geht, die Menschen immer näher in die Gegenwart Gottes zu führen - was die meisten inzwischen völlig vergessen zu haben scheinen. Zumindest eine Mitschuld dafür sieht Haberl auch bei den Medien: "Die meisten Medien haben beschlossen, die metaphysische Seite des Glaubens zu ignorieren", es gehe dort immer nur um diesseitige Probleme der Kirche. "Ginge ich nicht regelmäßig in die Messe, ich vergäße auch, dass es im Christentum nicht um Sozialpolitik, sondern um das ewige Leben geht." Und genau diese Dimension des Glaubens ist es, die unserer Gesellschaft im 21. Jh. abgeht: Wie und wo lässt sich das Heilige noch erfahren? Was kann uns in einer nahezu vollständig digitalisierten Welt noch Sinn und Hoffnung geben? Der Autor fühlt sich zwar durchaus angezogen von der Alten Messe und traditionellen Frömmigkeitsformen, ist aber kein Traditionalist, schon gar nicht in ethischen Fragen - und er befürwortet durchaus Reformen in der Kirche, kann sich andererseits aber auch nicht in der Forderung nach einer "zeitgemäßeren" Kirche wiederfinden. Dass es auch in der Kirche das Auseinanderfallen in gegnerische Lager gibt, die kaum noch miteinander zu tun haben wollen, bedauert er in jedem Fall sehr, findet das für Christen "beschämend". Tobias Haberl hat ein sehr persönliches, ehrliches Buch über den Glauben vorgelegt, dem bestimmt nicht alle in allen Punkten zustimmen, manchmal viele sogar heftig widersprechen werden, das aber sicher eines erreichen kann: Menschen über den Glauben wieder ins Gespräch zu bringen. Mehr will der Autor wohl auch nicht, weniger aber auch nicht.
Unter Heiden
Tobias Haberl
btb (2024)
286 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Wäre da doch jemand, der mich hört!
Wenn es darauf ankommt, bist du nicht da! Diese Art Gotteserfahrung dürfte weit verbreitet sein. Wie viele Menschen haben sich deswegen enttäuscht von ihm abgewandt? Wie oft wurde diese Erfahrung schon als Argument gegen Gott, gegen Religion insgesamt ins Feld geführt? Der Theologe Thomas Weiß nimmt eine schwere Erkrankung zum Anlass, um über die Frage nach Gott im Leid nachzudenken. Er erinnert daran, dass schon Jesus am Kreuz Gottes Schweigen aushalten musste. Die Evangelisten Matthäus und Markus drücken seine Not aus, indem sie ihm die ersten Worte des Psalm 22 in den Mund legen, eine Art Ur-Schrei nach dem abwesenden Gott. Es könnte an unseren Gottesbildern liegen, vermutet Weiß, „dass wir Gott nicht hören können, dass er uns zu schweigen scheint.“ Im Wissen darum, dass Gott in den Worten über ihn wohl anwesend ist, menschliche Worte ihn aber nicht erfassen können, bedenkt er deshalb verschiedene Gottesbilder: den schweigsamen Gott, den fragwürdigen, den versehrten, den unbrauchbaren Gott – und noch einige mehr – und gewinnt diesen Bildern überraschende Einsichten ab. Schweigen muss nicht Desinteresse bedeuten, erkennt Weiß. „Es gibt einen Schmerz, der verschlägt dir die Sprache; es gibt Leid, das erlaubt keinen Ausdruck mehr; es gibt Not, für die du keine Worte mehr hast.“ Bekannte hätten ihm, als er nach langer Zeit in der Klinik wieder zu Hause war, häufig gesagt, dass sie viel an ihn gedacht hätten, aber nicht wussten, was sie ihm hätten sagen sollen. Aushalten ist ein Freundschaftsdienst, wenn Worte nicht mehr weiterhelfen, ist Weiß‘ Erfahrung. Das wirft ein anderes Licht auf Gottes Schweigen: Schweigt er, weil er uns nahe ist? „Ich möchte das glauben“, schreibt Weiß. Ich auch. Diese Nähe ist nur deshalb möglich, weil Gott ein versehrter Gott ist. Im Unterschied zu den Vorstellungen von einem starken, allmächtigen Gott erzählt dieses Bild davon, dass Gott unmittelbar mitleidet. Doch: „Was hilft ein gekreuzigter, versehrter Gott?“ In aller Vorsicht versucht der Autor eine Antwort: Er habe trotz seines Leids, während beinahe unerträglicher Schmerzen, während der Chemo noch das das Gute sehen können. Nicht das Leid war gut (beileibe nicht!), gut war die Solidarität, die seine Familie und er erfahren haben. Sie sieht er als Hinweis auf Gottes stille Anwesenheit, die ihm Kraft und Hoffnung gegeben haben. Deshalb kann er sagen: „Gott ist nicht nur dabei, voller Erbarmen und Mitleid.“ Nein, das Kreuz Christi zeige: „Gott ist mittendrin. Die schwärzeste Nacht, der grellste Tag, die feurigste Hitze, die eisigste Kälte, der brennendste Schmerz und der bodenlose Abgrund, sie sind nicht gottlos!“ Thomas Weiß hat ein durch seine Erfahrung beglaubigtes Buch über einen Gott geschrieben, zu dessen Wesen es offenbar gehört, im Verborgenen zu wirken. Seine Durchsicht verschiedener Gottesbilder ist ebenso überraschend wie aufbauend und sei allen Menschen ans Herz gelegt, die Leid durchleben oder mit Leidenden zu tun haben. (Religiöses Buch des Monats Oktober)
Christoph Holzapfel
rezensiert für den Borromäusverein.
Wäre da doch jemand, der mich hört!
Thomas Weiß
Gütersloher Verlagshaus (2024)
187 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Was nicht alles möglich ist!
Was für ein ermutigender Perspektivenwechsel! Wer heute über Religion und Glauben spricht, beklagt meist vor allem, was in der Kirche alles nicht möglich ist. Irmgard Millers Buch über die "Erfahrungen einer Frau in der Seelsorge" trägt dagegen den Titel "Was nicht alles möglich ist!" Natürlich greift diese Formulierung - wie auch das ganze Buch - weiter aus als nur auf die aktuelle kirchliche Situation hin, doch stellt die Autorin durchaus auch fest: "Möglich wäre, nein: Möglich ist auch in unserer aktuellen kirchlichen Lage weit mehr, als wir vielleicht meinen. … Wenn wir in der Seelsorge ganz konkret bei den Menschen sind. Gerade die Frauen hätten, nein, sie haben da sehr viel zu geben!" Weil Irmgard Miller Seelsorge eben nicht auf geweihte Amtsträger oder hauptamtlich Angestellte beschränken will. Nach ihrer Überzeugung (und Erfahrung) sind alle Christen dazu aufgerufen, den Menschen von heute die befreiende Botschaft des Evangeliums zu bringen. "Seelsorge kann ja nicht bloß von einem Titel, einer Weihe, einem Studium abgeleitet werden. Sie zeigt sich im Tun, wird konkret in lebendigen Beziehungen und manchmal sind es gerade die ‚einfachen Menschen', denen die Gabe der einfühlenden Seelsorge geschenkt ist." Der Begriff Seelsorge beschreibt wirklich genau das, worum es geht: um die Zusage von Gottes Liebe bei schweren Erkrankungen, seelischen Belastungen, in Glaubenszweifeln und Sinnsuche, bei Verlusterfahrungen und Trauer. Seelsorge beinhaltet deshalb immer eine große Verantwortung, sie darf nie oberflächlich sein. Seelsorge auf den Spuren Jesu braucht vielmehr "das Sich-Einfühlen auf Augenhöhe." Natürlich hilft in schwierigen Situationen der Seelsorge eine fundierte Ausbildung, doch sollten sich alle anderen davon nicht entmutigen lassen. Irmgard Miller ist nach jahrzehntelanger Erfahrung überzeugt: das Entscheidende in der Seelsorge kann man ohnehin nicht "machen", es geht vielmehr darum, Räume dafür zu schaffen, dass das Wirken von Gottes Gnade erfahren werden kann; oft reicht es dazu, wenn wir uns "dem Wirken des Geistes nicht in den Weg stellen". Seelsorge wird deshalb auch nicht als Einbahnstraße begriffen: Auch die Seelsorgenden machen ja diese Erfahrungen des Wirkens Gottes an den Menschen, erleben immer wieder, dass für Gott nichts unmöglich ist. Die Autorin schildert im Hauptteil 30 beispielhafte Begegnungen, die sie in der Seelsorge in verschiedenen Situationen (bei Besuchen im Krankenhaus, bei Seminaren, Exerzitien, in persönlichen Gesprächen der Lebensberatung…) gemacht hat. Im Anschluss an die Beschreibung des Erlebten werden dann über den konkreten Einzelfall hinausreichende allgemeine Einsichten formuliert: über die heilsame Kraft des Gebets oder über die Bedeutung des Lebenszeugnisses neben der Wortverkündigung; über die befreiende Erfahrung der Vergebung oder über die Wichtigkeit, Abschiede auch zu betrauern. Immer wieder konnte Irmgard Miller die Erfahrung machen, dass gerade in den schwierigsten Situationen der Heilige Geist hilft; dass der Ruf Gottes uns in jeder Lebenslage erreichen kann; dass uns scheinbar schwierige Lebensumstände manchmal ein Angebot für unser Inneres machen; dass Gott niemanden aufgibt und jede einzelne Person in ihrer ganz persönlichen Situation anspricht. So kann die Lektüre die Leserinnen und Leser tatsächlich, wie von der Autorin gewünscht, "inspirieren, sich auf den Weg zu einer tieferen Selbstfindung und zur Neuordnung des Lebens im Lichte des christlichen Glaubens zu machen". Man lernt aus dem schmalen, aber gehaltvollen Buch erstaunlich viel über den Lebens- und Glaubensweg - sowohl den eigenen wie auch die möglichen Wege anderer. (Religiöses Buch des Monats September)
Was nicht alles möglich ist!
Irmgard Miller
Verlag Neue Stadt (2024)
95 Seiten
kt.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Warum ich an Gott glaube
Der Theologe Gerhard Lohfink (1934 – 2024) blickt in seinem letzten Buch auf seine Glaubensbiografie zurück. Wie kam es, dass er Priester wurde, sich der Erforschung des Neuen Testaments widmete und 1986 den Lehrstuhl in Tübingen aufgab, um in München in der „Integrierten Gemeinde“ zu leben? Wie viele junge Deutsche, die kurz vor oder während des Zweiten Weltkrieges geboren wurden, prägten ihn der Nationalsozialismus, der Krieg und danach die katholische Jugendbewegung. Das war der Nährboden, auf dem die Berufung zum Priester wachsen konnte. Entscheidend für die Entwicklung hin zu der Person, die viele Menschen als Theologe und Autor erlebt haben, war die Beschäftigung mit dem Lukasevangelium und der Apostelgeschichte für Promotion und Habilitation. Sehr lebendig erzählt er von seiner Untersuchung der beiden Himmelfahrtserzählungen des Lukas. Das Kapitel würzt er bei allem wissenschaftlichen Ernst mit Anekdoten wie tanzenden Puppen nach seiner Promotion oder einem (gescheiterten) Mordanschlag babylonischer Götter während eines Vortrags über die Schöpfungstexte. Im Kapitel über die Jahre als Professor in Tübingen (ab 1973) macht er deutlich, dass das Neue Testament eine wohldurchdachte Komposition und ohne das Alte Testament nicht zu verstehen ist. Der zweite Punkt ist die Entdeckung und Herausarbeitung des Gemeinschaftsgedankens im Neuen Testament und gerade in der Apostelgeschichte. Nach Lohfinks Auffassung geht Gemeinschaft, wie sie von Paulus oder Lukas gedacht wird, weit über den gleichzeitigen Besuch von Gottesdiensten und das kirchliche Vereinsleben hinaus. Diesen Gemeinschaftscharakter sah Lohfink in der „Integrierten Gemeinde“ in München verkörpert und gab 1986 seinen Lehrstuhl auf, um ganz in der Gemeinde leben zu können. Mit großer Begeisterung erzählt er von dieser Zeit - und die wenigen, geradezu dürren Sätze, die er sich zu deren traurigem Ende (wegen schwerer Vorwürfe geistlichen Missbrauchs) abringt, lassen erahnen, welch‘ persönliche Katastrophe dieses Ende für ihn bedeutet haben muss. Seine eigene Rolle in der Gemeinde reflektiert er nicht. Waren die Kapitel bisher stark lebensgeschichtlich geprägt und mit zahlreichen Anekdoten gewürzt, geht es im Kapitel „Gottesverteidigung“ ans Eingemachte. Wie kann Lohfink angesichts des unermesslichen Elends in der Welt noch an Gott glauben? Nach einer sehr engagierten und klugen Verteidigungsrede, in der es u.a. um Freiheit geht und darum, dass Gott nicht willkürlich in die Geschichte eingreift, kommt er zum entscheidenden Punkt: Mit bloßem Argumentieren kommt man nie an ein Ende. Gefragt ist eine Glaubensentscheidung. „Ich weigere mich“, schreibt er, „die Welt und die Geschichte als eine absurde Sinnlosigkeit anzusehen. Ich glaube an den Sinn der Schöpfung, - dass sie nämlich ihr Ziel und ihre Vollendung in Gott finden wird.“ Sein Verdienst in diesem und vielen anderen Büchern besteht darin, vom Glauben an Gott durch Jesus Christus so gesprochen und geschrieben zu haben, dass viele Menschen seine Glaubensentscheidung nachvollziehen und davon für den eigenen Glauben profitieren konnten. (Religiöses Buch des Monats August)
Christoph Holzapfel
rezensiert für den Borromäusverein.
Warum ich an Gott glaube
Gerhard Lohfink
Herder (2024)
201 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Christen verändern die Welt
Jesuitenpater Eberhard von Gemmingen, ehemaliger Leiter der deutschen Redaktion von Radio Vatikan vertritt im Vorwort zu seinem neuen Buch die These: „Wenn Christus in Europa ganz vergessen wird, dann verliert Europa seine Identität!“ So will er seinen Beitrag als „Initialzündung“ verstanden wissen, die dem Leser die Reichweite christlichen Handelns – in welchen Bereichen auch immer – vor Augen führt. Seine, wie er bekennt, rein subjektive Auswahl „behandelt“ Personen und Organisationen aus vielen Zeitepochen, Nationen und Genres. Es finden sich so bekannte Namen wie Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther und Edith Stein, aber auch Adam Schall von Bell, Pauline von Mallinckrodt oder das katholische Eichsfeld. Ja, Eberhard von Gemmingen blickt auch auf den Widerstand gegen das kommunistische DDR-Regime oder die Wirkung von Klöstern wie Maria Laach. Aber auch Dag Hammarskjöld, Albrecht Dürer, Heinrich Böll, Alfred Döblin oder Helene Weber trugen durch ihr Handeln zur Festigung der christlichen Werte bei. Der Kölner Dom, Vierzehnheiligen und das Kloster Beuron sind wie unzählige andere Bauten, Landmarken, die dem Glauben ein Gesicht geben. „Was wäre Europa ohne seine Sakralbauten?“ fragt sich der Autor – mit Recht! Die Biografien sind unterschiedlich lang und mit adäquaten Bibelversen und Schwarzweiß-Bildern versehen. In kompakter Form und gut verständlich regt das Werk zum Nachdenken an und informiert über Wegbereiter des Christentums. Sehr zu empfehlen!
Sabine Tischhöfer
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Christen verändern die Welt
Eberhard von Gemmingen
Verlag Friedrich Pustet (2024)
291 Seiten : zahlreiche Illustrationen
kt.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Hellwach am Leben
"Lasst die Kinder zu mir kommen", fordert Jesus die Jünger im Markusevangelium auf. Und er sagt: "Wer in meinem Namen ein Kind aufnimmt, nimmt mich auf - und den, der mich gesandt hat". Diese beiden Stellen sind für Steve Heitzer ganz entscheidend, wenn es um Spiritualität geht. Jesus macht hier deutlich, dass der Weg zu ihm nicht über Macht und Konkurrenz führt. Kinder haben noch nichts vorzuweisen, sie können noch nicht mit Leistung prunken. "Kinder können sich ganz einlassen auf ihr Da-sein und ihr spielerisches Tun." Sie leben (meistens jedenfalls) im Moment, können die Zeit vergessen - oder besser: die vergehende Zeit spielt noch keine große Rolle für sie. "Darin sind sie für uns wie Pförtner in das Reich Gottes." Diese Einsicht hat Heitzer dazu gebracht, mit Kindern zu arbeiten - und daraus seine Spiritualität zu entwickeln. Achtsamkeit bedeutet für ihn, das Leben im Moment zu erleben, zu genießen, auch zu erleiden. "Das Leben ist immer da", schreibt er, "nur wir sind oft nicht da." Auch Gott ist immer da - wird nur oft übersehen, weil viele in Gedanken woanders sind, von ihrem "Autopiloten" (Heitzer) im "Erledigungsmodus" durch den Tag gesteuert werden, ohne anzuhalten, zu staunen und die kleinen Zeichen wahrzunehmen, die auf das große Ganze verweisen. Heitzer redet keiner Wohlfühlspiritualität das Wort. Der Alltag mit seinen Zumutungen, das Leid, auch die Verantwortung, die Einzelne für die Gesellschaft haben, gehören dazu. Spiritualität bedeutet für ihn, den Alltag, das eigene Umfeld in einer bestimmten Weise wahrzunehmen und zu gestalten, ohne sich davon völlig gefangen nehmen zu lassen. Heitzer greift auf verschiedene spirituelle Traditionen zurück, auf christliche Mystik genauso wie auf den Buddhismus. Sein Buch öffnet die Augen für das Geheimnis des Lebens und unterstützt die Lesenden dabei, auch im Alltag mit dem großen Ganzen, das die Christen Gott nennen, in Verbindung zu bleiben.
Christoph Holzapfel
rezensiert für den Borromäusverein.
Hellwach am Leben
Steve Heitzer
Tyrolia-Verlag (2024)
269 Seiten : Illustrationen
kt.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Grenzenlos frei
Der Benediktinerabt der Klöster Andechs und St. Bonifaz in München, Johannes Eckert, hat bereits Betrachtungen zu den vier Evangelien sowie der Offenbarung des Johannes veröffentlicht. Nun legt er unter dem Titel „Grenzenlos frei“ Betrachtungen zur Apostelgeschichte vor, die ausdrücklich als „Ermutigungen“ zu verstehen sind. Die Apostelgeschichte wurde ebenfalls vom Evangelisten Lukas verfasst, handelt aber nicht vom Leben Jesu, sondern vom Wirken des Heiligen Geistes unter den Jüngern Jesu nach dessen Tod, Auferstehung und Himmelfahrt. Zu Beginn macht Abt Johannes darauf aufmerksam, dass in der Apostelgeschichte ein Motiv im Zentrum steht, das Lukas auch schon in seinem Evangelium besonders wichtig ist: der Weg. Schon im Alten Testament steht die Wegerfahrung Israels im Mittelpunkt: Gott führt sein Volk aus der Gefangenschaft in die Freiheit. Nach Lukas wird auch die nach dem Pfingstereignis sich ausbreitende Jesusbewegung als Weg, als „der neue Weg“ bezeichnet. Und auch die junge Kirche ist im Wesentlichen eine Befreiungsbewegung: sie soll die Menschen durch die Frohe Botschaft von der Auferstehung Jesu Christi aus den Fesseln des Todes befreien. Unter diesem Aspekt betrachtet der Autor in seinem Buch die Apostelgeschichte nicht als bloßen Bericht über eine historisch abgeschlossene Epoche, vielmehr können wir darin „Therapievorschläge des Heiligen Geistes für die Kirche entdecken“, um zu neuer Bewegungsfreiheit zu finden. Die weiteren Kapitel beschreiben in diesem Sinne 16 Begebenheiten in der Apostelgeschichte, die uns als Ermutigung dienen können. Petrus und Johannes verhelfen beispielsweise im Namen Jesu einem Gelähmten im Tempel zu souveräner Beweglichkeit, die dieser zum Lob Gottes nutzt - dafür müssen sie kein Gold und Silber besitzen, aber das Vertrauen haben, dass Gott da ist und Befreiung schenkt. Der Rat des Gesetzeslehrers Gamaliel an den Hohen Rat, die Apostel freizulassen, denn wenn ihr Werk von Menschen stamme, gehe es von selbst zugrunde, wenn es aber von Gott stamme, könne man es nicht vernichten, sollte auch uns dazu ermutigen, in der Kirche eine gewisse Vielfalt zuzulassen. Dass Petrus aus dem Kerker des Königs Herodes nachts durch einen Engel befreit wird, während die christliche Gemeinde inständig für ihn betet, könnte uns wieder vor Augen führen, dass für Gott nichts unmöglich ist, dass das Gebet „einen Raum schafft, in dem Gott wirken kann“ und dass manchmal Gottes Engel uns unsanft aufweckt, um uns zu befreien. Paulus und Barnabas finden nach einem Streit zu keinem Kompromiss, sondern gehen im Dienst am Evangelium getrennte Wege. Paulus muss dann auf seinem Weg mit seinem neuen Gefährten Silas die Erfahrung machen, dass ihnen der Heilige Geist ihre Pläne „verwehrt“ - um ihm dann in einer Vision zu zeigen, was er stattdessen tun soll. Wir können daraus lernen, dass auch Missgeschicke, Schicksalsschläge, Erfolglosigkeit als das Wirken des Heiligen Geistes verstanden werden können, der uns in eine andere Richtung führen will, als wir zunächst meinen. Die Schriftauslegungen des Autors sind keine theoretischen Reflexionen im luftleeren Raum, sie beziehen vielmehr dessen persönliche Erfahrungen als Ordensmann und die Ordensregel des hl. Benedikt stets mit ein - geht es doch in der Kirche wie im Orden um eine Gemeinschaft. Bei den jeweiligen Bezugnahmen auf die aktuelle Situation der Kirche mit ihren Problemen und den vorgeschlagenen Lösungsmöglichkeiten werden wohl (und müssen) nicht alle immer derselben Meinung sein, geht es doch hier um die bekannten Streitfragen. Aber ganz unabhängig von den eigenen Positionen werden in jedem Fall alle in diesem Buch wertvolle Anregungen finden können, diese Fragen wie der Autor ganz von der Hl. Schrift aus anzugehen und im Vertrauen auf das Wirken des Heiligen Geistes neuen Mut zu schöpfen. (Religiöses Buch des Monats Mai)
Grenzenlos frei
Johannes Eckert
Herder (2024)
224 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Die Gottsucher
Vor mehr als 1000 Jahren tauchte in Paris ein Buch mit dem (natürlich in Latein gehaltenen) Titel „Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen“ auf. Darin enthalten: 24 Sätze über Gott und 144 Erläuterungen dieser Sätze. Diese 24 Sätze versuchen zu beschreiben, wer Gott aus philosophischer Sicht ist. Rainer Oberthür, Autor und Religionspädagoge, hat dieses Buch vor 12 Jahren für sich entdeckt und erzählt es auf seine Weise für Kinder und Erwachsene nach. Hoch philosophisch wirkende Sätze stehen darin neben (scheinbar) ganz einfachen, z.B.: „Gott ist die unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall ist und deren Umfang nirgends ist.“ Und: „Gott ist Geist, der das Wort hervorbringt und immer in Verbindung bleibt.“ „Die Sätze waren geheimnisvoll“, schreibt Oberthür in der Einleitung, „und erschienen zum Teil wie kaum lösbare Rätsel.“ Doch die 24 Philosophinnen und Philosophen sorgten durch kurze Kommentare dafür, dass sie zugänglicher wurden. So heißt es zur unendlichen Kugel z.B.: „Gott ist überall, doch nie nur an einem Ort, ist selbst die Mitte, die deshalb überall ist.“ Und: „So wie sich das All seit dem Urknall immer weiter ausdehnt, ist Gott ohne Grenzen da.“ Oberthür hat sich die Freiheit genommen und zwei Kinder hinzugedichtet, die die philosophischen Gedanken in kindgerechte Worte transponieren – die nicht weniger philosophisch sind! Diese Gedanken gehen auf Äußerungen von Kindern im Religionsunterricht zurück. Zur unendlichen Kugel kommentieren sie: „So wie der Weg auf einer Kugel immer weiter geht, so haben auch die Wege Gottes keinen Anfang und kein Ende.“ Farbige Illustrationen von Barbara Nascimbeni schaffen einen weiteren Zugang und laden - wie alle Worte in dem Buch auch - zum Gespräch und zum Nachdenken ein. Oberthür bietet damit schon Kindern und Jugendlichen „Wege freien Denkens und Staunens über Gott“ an. Sie ergänzen und vertiefen, was in der Bibel über Gott erzählt wird – und helfen vor allem zu erkennen, dass Gott immer nur Ahnung bleibt: „Gott finden wir in Gegensätzen wie Nichts und Sein, Dunkel und Licht, groß und klein. Doch das tiefste Wissen über Gott bleibt ein Nicht-Wissen.“ Wer mit Kindern zu tun hat, weiß, dass sie nachdenklich, neugierig und auf ihre eigene Weise philosophisch veranlagt sind. Es lohnt sich, mit ihnen und diesem Buch auf Entdeckungsreise zu gehen und ihnen auf diese Weise ein Gottesbild zu vermitteln, das über das Kindesalter hinaus trägt. Deshalb ist dieses Buch ein großes Geschenk, lesenswert für Eltern, Katechet*innen, Lehrer*innen – und überhaupt für alle neugierigen Menschen. (Religiöses Buch des Monats April)
Christoph Holzapfel
rezensiert für den Borromäusverein.
Die Gottsucher
Rainer Oberthür ; illustriert von Barbara Nascimbeni
Kösel (2023)
112 Seiten : zahlreiche Illustrationen (farbig)
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Konvertiten: katholisch geworden
Auf den ersten Blick scheint ein Buch über „Konvertiten“ heute ziemlich aus der Zeit gefallen. Wo es in beiden Kirchen nurmehr um eine Begrenzung der Kirchenaustritte zu gehen scheint, sind Übertritte zwischen den Konfessionen wohl kaum noch ein relevantes Thema, scheinen sogar eher den Bemühungen um mehr Ökumene zu widersprechen. Tatsächlich geht es aber in diesem Buch von Alfred Sobel um etwas viel Grundlegenderes als um einen Konfessionswechsel, weshalb auch der Untertitel „Katholisch geworden“ eigentlich in die Irre führt und deshalb etwas unglücklich gewählt ist. Viel besser träfe es der Untertitel „Zum Glauben gefunden“, denn darum geht es in diesen dreizehn Porträts: um Menschen, die an einer bestimmten Stelle ihres Lebens zum christlichen Glauben gefunden und dann aus diesem Glauben heraus ihr ganzes Leben gestaltet haben. Dass eine Abkehr von einer vorherigen Konfession dabei keine große Rolle spielt, weil diese in der Regel nur pro forma bestand, zeigt allein die Tatsache, dass zwei der Porträtierten gar keinen Konfessionswechsel vollzogen haben, sondern bereits nach der Geburt katholisch getauft wurden, aber ihren Glauben erst im Erwachsenenalter wirklich entdeckt (Antoni Gaudí) bzw. noch einmal entscheidend intensiviert haben (Katharina Kasper). Faszinierend sind derartige, oft sehr radikale Kehrtwenden in der durch den Glauben geprägten gesamten Lebensentscheidung in jedem Fall, wie etwa bei der feministischen Schriftstellerin Karin Struck, für die ein Schwangerschaftsabbruch Mitte der 70er Jahre zum einschneidenden Erlebnis wurde, das sie schließlich zum katholischen Glauben führte. Oder das ganz und gar unkonventionell lebende Künstlerpaar Emmy Hennings und Hugo Ball, Begründer der Kunstrichtung des Dadaismus, die inmitten ihres äußerst turbulenten Lebens und trotz aller Skepsis gegenüber der Amtskirche zum katholischen Glauben gefunden bzw. zurückgefunden haben – Hugo Ball war katholisch gewesen, aber aus der Kirche ausgetreten – und deren Leben und künstlerisches Arbeiten fortan vom Glauben geprägt wurde. Individuell sehr verschieden vollziehen sich die geschilderten Bekehrungen, manchmal durch eine Lebenskrise ausgelöst wie bei Karin Struck, manchmal aber auch mit einem sehr langen Anlauf wie beim Schriftsteller Ernst Jünger, der erst kurz vor seinem Tod im Alter von 100 Jahren katholisch wurde. Ebenso möglich und nachvollziehbar ist aber auch ein unspektakuläres Hineinwachsen in den Glauben wie bei der schwedischen Astronomie-Professorin Karin Öberg oder auch ein Weg über mehrere Stationen wie beim österreichisch-italienisch-deutschen Ingenieur Leonhard Adler, der 1888 als Kind einer jüdischen Familie geboren wurde, sich 1906 evangelisch taufen ließ, 1917 zum katholischen Glauben konvertierte, 1953 trotz bestehender Ehe mit Zustimmung seiner Frau und Dispens vom Papst in den Franziskanerorden eintrat und 1956 zum Priester geweiht wurde. Auffällig ist in jedem Fall eine Parallele, die sich bei allen Dargestellten findet – die vernunftmäßige Auseinandersetzung mit Glaubensfragen muss zwar zu überzeugenden Antworten kommen, letztlich ausschlaggebend für die Glaubensentscheidung sind aber meist persönlich erlebte Lebenszeugnisse anderer Christen. Biografien werden im Bereich der Sachbücher besonders gerne gelesen, und so ist dieses Buch von doppeltem Nutzen: Zum einen veranschaulicht der biografische Zugang in eindrucksvoller Weise die zentrale Aussage, dass für alle, die zum Glauben finden, gelebte Vorbilder im Glauben, authentische Persönlichkeiten letztlich unerlässlich sind – und das Leben jedes Menschen deshalb für andere zum Glaubenszeugnis werden kann. Und andererseits vermag diese Biografien-Sammlung auch Leserinnen und Leser anzusprechen, die sonst nicht zu einem thematisch religiösen Buch greifen würden. (Religiöses Buch des Monats März)
Konvertiten: katholisch geworden
Alfred Sobel
Patmos
Verlag (2024)
200 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
Leben, das wächst
Dass im Bauch einer Schwangeren neues Leben heranwächst, ist trotz allen medizinischen Wissens noch immer Grund zum Staunen. Weder schwanger werden noch der glückliche Ausgang einer Schwangerschaft sind selbstverständlich; das wachsende Leben bleibt unverfügbar. Über dieses Gebiet in ihrem Körper hat die Schwangere plötzlich keine Kontrolle mehr. „Ein ungeborenes Kind kann uns zeigen, wer wir sind“, schreibt Annette Jantzen in ihrem spirituellen Schwangerschaftsbegleiter. „Wir sind im Werden, und angewiesen auf das Leben, das uns umgibt, wir sind gefährdet und geborgen. Schwanger zu sein heißt dann, deutlicher als sonst im Leben auf beiden Seiten zu stehen: selbst angewiesen zu sein und diejenige, auf die ein anderes Leben angewiesen ist, Geschöpf zu sein und selbst neuem Leben ins Dasein zu helfen, körperlichen Prozessen ausgesetzt zu sein und sie aktiv zu erleben.“ Mit Gebeten, „sortierenden Texten“ und Erfahrungsberichten formuliert Annette Jantzen Anstöße, diese spirituelle Seite der Schwangerschaft zu entdecken und Worte dafür zu finden. Jantzen verschweigt dabei auch die anstrengenden und beängstigenden Seiten einer Schwangerschaft nicht. Wie große Freude gehören auch Sorgen, Anstrengung, Nöte zu einer Schwangerschaft – letztlich kommt es darauf an, wie frau damit umgeht. Die körperliche Seite der Schwangerschaft ist für sie ein wichtiger Teil des spirituellen Erlebens. Auch einer Schwangerschaft, die nicht gut ausgeht, ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Jantzens Gebetstexte tragen dem Rechnung: sie drücken Freude und Hoffnung genauso aus wie Sorgen und Mühen: „Meine Gedanken fahren Sorgenkarussell. / Ob es bleibt, / ob alles gutgeht, / wie es werden wird. / Ob ich das schaffen werde. / Ob es noch da ist. / Fahr mit mir Sorgenkarussell, bitte. …“. Eine gute Ergänzung der vorformulierten Gebete sind die „Wortwolkengebete“, die eine Mischung aus Gebet und Meditation sind und helfen, Gedanken an Gott zu formulieren, wenn die vorformulierten Gebete nicht passen. Wer Annette Jantzen (Blog und Buch „Gotteswort, weiblich“) kennt, weiß, dass es zu ihren Anliegen gehört, eine patriarchale, einseitig männliche Rede von Gott zu überwinden. Darum setzt sie in ihrem Schwangerschaftsbegleiter auf weibliche Gottesanreden (Freundin, Schöpferin, Ewige) und verfremdet das Wort G*tt durch ein Sternchen, um deutlich zu machen, dass G*tt menschliche Kategorien sprengt und unverfügbar ist. Annette Jantzens Schwangerschaftsbegleiter gründet auf einer einladenden, lebensnahen Spiritualität, die Gott als Freund des Lebens zeigt und damit vielen Menschen einen Zugang zu dieser Dimension ermöglicht. (Religiöses Buch des Monats Februar)
Christoph Holzapfel
rezensiert für den Borromäusverein.
Leben, das wächst
Annette Jantzen
echter (2023)
127 Seiten : Illustrationen (farbig)
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats
All meine Quellen entspringen in dir
Der bekannte Neutestamentler Gerhard Lohfink erschließt in seinem neuen Buch "All meine Quellen entspringen in dir" zentrale, oft gut bekannte Bibeltexte vor dem Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte und zeigt auf diese Weise deren wirklich revolutionäre, weltbewegende Kraft und Zuversicht, die heute oft vergessen und verschüttet ist, neu auf. Als roter Faden dient ihm dabei der Lauf des Kirchenjahrs, der vom Advent angefangen dem Leben Jesu folgt, wobei Lohfink keineswegs nur die Schriften des Neuen Testaments in den Blick nimmt - im Gegenteil weist er immer wieder darauf hin, dass dieses untrennbar mit dem Alten Testament verbunden ist und bleibt, in seiner ganzen Fülle eigentlich nur von diesem her wirklich verstanden werden kann. Durch die Anordnung entlang des Kirchenjahrs kann das Buch jedenfalls wie ein Jahresbegleiter gelesen werden, aber auch bestimmten Interessen folgend wie ein Lesebuch - die einzelnen Abschnitte können selbständig gelesen werden, auch wenn es natürlich Zusammenhänge und Verweisungen untereinander gibt. Zunächst behandelt das erste Hauptkapitel jedoch "Grundlegendes", etwa die Frage, warum Gott, der doch alle Menschen geschaffen hat, zunächst nur ein Volk, Israel, auserwählt, und auch Jesus sich nur an Israel gewandt hat; es geht um die "Macht der Bilder" oder um eine Religion, in der Gottes Offenbarung und der mühsame Aufklärungsprozess des Menschen keine Gegensätze darstellen. Im größten Kapitel "Feste und heilige Zeiten" werden dann eben die Feiertage im Laufe des Kirchenjahres und die ihnen zugrundeliegenden Aussagen der Hl. Schrift betrachtet. Dabei werden aus der theologischen Gesamtperspektive des Autors manche Details der biblischen Texte erst in ihrer Fülle verständlich bzw. fallen überhaupt erst auf und erschließen sich vielfach zusätzliche Dimensionen der biblischen Texte. Dabei kommen immer wieder neue und z.T. auch überraschende Einsichten zur Sprache. Sehr erhellend ist es z.B., wenn die Auslegung des vielleicht bekanntesten Psalmes 23 ("Mein Hirt ist Gott der Herr") u.a. zu der Erkenntnis führt, dass die Christen ihre jüdischen Wurzeln niemals abschneiden dürfen, "sie müssen den Weg Israels nachgehen. Auch sie müssen den Exodus wagen, sich durch die Wüste führen lassen und zusammen mit Israel Gottesvolk werden". Eine dem modernen Menschen eher unrealistisch anmutende Erzählung des Lukas-Evangeliums, die Verkündigung des Engels an Maria, wird so aufgeschlossen, dass sie die Essenz dessen aussagt, was Jesus über die Gottesherrschaft verkündigt hat: "Die Gottesherrschaft verlangt Geschehen-Lassen und Sich-Hingeben. Sie kommt nicht ohne reines Empfangen, und dieses Empfangen ist immer auch ein Sterben." Und die Auslegung eines uralten biblischen Textes, der heute noch in jeder Messfeier weltweit beim Singen des "Sanctus" zitiert wird, lässt Lohfink zeigen: Gott kann selbst noch die verheerenden Katastrophen in der Welt und auch in der Kirche "mit all ihren schrecklichen Seiten benutzen, um seinen Plan mit der Welt und mit der Kirche weiterzuführen". Im abschließenden Kapitel "Unterscheidungen" geht es dann v.a. um die Rolle von Religion und Kirche in unserer Gesellschaft, sowohl prinzipiell wie auch in konkreten Einzelfragen, aber auch um die richtigen Formen der Aktualisierung biblischer Botschaften in der heutigen Zeit. Insgesamt hat Gerhard Lohfink wieder ein Buch vorgelegt, dessen Inhalt man bei nur einmaliger Lektüre kaum ausschöpfen kann - man wird aber immer wieder gerne zu diesen Ausführungen zurückgreifen, weil sie nicht nur enorm viel theologisches Wissen vermitteln, sondern auch reichen geistlichen Gewinn bereithalten.
All meine Quellen entspringen in dir
Gerhard Lohfink
Herder (2023)
412 Seiten
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats