von Michael Braun
Die aktuelle Nobelpreisträgerin Annie Ernaux ist kein unbeschriebenes Blatt. Anders als ihre Vorgänger Louise Glück, die den Preis 2020, und Abdulrazak Gurnah, der ihn 2021 bekam, stand sie auf den Wettlisten und galt in Fachkreisen als Nobelanwärterin. Ihre Bücher sind im französischen Sprachraum gut bekannt, sie werden dort vielgelesen, von der Kritik hochgeschätzt und in internationalen Konferenzen behandelt. Etliche ihrer bislang 22 Werke sind im Suhrkamp Verlag publiziert.
Das Nobelpreiskomittee der Schwedischen Akademie begründet die Entscheidung mit Annie Ernaux‘ „Mut und klinischem Scharfblick, mit denen sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung bloßlegt“. In Ernaux‘ Schreiben entsteht daraus eine ganz besondere Form der Erinnerung. Sie geht nicht nur auf persönliche Erfahrungen mit Körper und Geschlecht, Familie und Herkommen, Glauben und Wahrheit ein, sondern auch auf die westeuropäische Geschichte der letzten achtzig Jahre. Die Lebenszeit einer Frau wird so zur literarischen Erinnerung.
Von Lebenserfahrungen erzählen
Annie Ernaux wurde 1940 geboren und wuchs in einem Dorf in der Normandie auf, ihre Eltern waren Arbeiter und betrieben später ein Ladengeschäft mit Café. Nach dem Studium in London, Rouen und Bordeaux arbeitete sie über dreißig Jahre als Gymnasiallehrerin. Heute lebt sie in einer Vorstadt von Paris und nimmt nach wie vor aufmerksamen Anteil am politischen und sozialen Geschehen ihrer Zeit.
Zu schreiben begann Annie Ernaux mit Romanen. Ihre Themen sind soziale Ungleichheit und Klassismus, Zeit und Erinnerung, weibliche Intimität und männliche Dominanz. Dafür zieht sie aber nicht auf einen Kreuzzug für eine gerechtere Gesellschaft. Sie schreibt im Licht der übergreifenden Frage, wie man von diesen Lebenserfahrungen wahrhaftig und exemplarisch erzählen kann. Konsequenterweise hat sich die Autorin nach ihrem Romandebüt „Les armoires vides“ (1974, „Die leeren Schränke“) von der Fiktion verabschiedet. In einer Reihe von höchst beachtenswerten Büchern hat sie fortan ein Schreiben über sich selbst praktiziert, das nicht autobiographisch sein will, weil, wie die Autorin sagt, „man nicht allein ist“. Dieses „man“, das aus dem französischen „on“ ebenso vielsagend ins Deutsche hineinschillert wie das grammatisch mehrdeutige „elle“ („sie“), ersetzt das „Ich“ traditioneller Autobiografien.
Das unterscheidet Annie Ernaux von anderen Autoren autofiktionaler Werke, von Georges-Arthur Goldschmidt und von Barbara Honigmann etwa. Sie ist auf der Suche nach der verlorenen Zeit, inspiriert oft Kindheitsfotos von Erstkommunion oder Firmung, die ihr die Gewissheit geben wollen, sie selbst zu sein, obwohl sie sich darin nicht wiedererkennen kann. Annie Ernaux ist ein weiblicher Proust. Ihr geht es darum, den ständigen Verzweigungen der Erinnerung zu folgen und erzählerisch durch die Gedächtnisflut an Bildern und Worten zu navigieren. „Immer wieder diese Sätze in meinem Tagebuch“, schreibt sie, „Anspielungen auf ‚das Mädchen von S‘, ‚das Mädchen von 58‘. Seit zwanzig Jahren steht ‚58‘ in meinen Notizen zu jedem neuen Buch. Das ist der fehlende Text. Immer aufgeschoben. Die unbeschreibliche Leerstelle.“
Werke
Als eines ihrer wichtigsten Werke in dieser Richtung gilt „Les Années“. 2008 erschienen, wurde das Buch sogleich zum Bestseller. 2017, als Frankreich Buchmessenland in Frankfurt war, erschien die sorgsame deutsche Übersetzung von Sonja Finck. „Die Jahre“ erzählt von den Erinnerungen an das achtzehnjährige Mädchen, das Annie Ernaux damals war. In einem Feriencamp verliebte sie sich in einen Betreuer, machte Erfahrungen mit Sexualität und unerwiderter Liebe, mit weiblichem Begehren und männlicher Gewalt – und mit ihrer Scham, der „letzten Wahrheit“ („La Honte, 1997, deutsch „Die Scham“, 2020). Das Gedächtnis der Scham, schreibt sie in „Mémoire de fille“, das 2003 begonnen und nach 50 Seiten abgebrochen, 2014 wiederaufgenommen und 2016 publiziert wurde (auf Deutsch: „Erinnerung eines Mädchens“, 2018), sei „klarer und erbarmungsloser als jedes andere“: Es überwindet die Illusion einer nur persönlichen Erinnerung. Wer sich schämt, steht in Beziehung zu anderen.
In diesem Wissen, nicht allein von sich selbst erzählen zu können, wird Annie Ernaux‘ Schreiben politisch. Als sie ins Ferienlager und zum Studium nach London ging, wurden junge französische Rekruten nach Algerien geschickt, es war die Zeit von „Charles de Gaulles Rückkehr, des neuen Francs und der neuen Republik, Pelé wurde Weltmeister, Charly Gaul gewann die Tour de France und Dalida sang ‚Mon histoire, c’est l’histoire d’un amour‘“. Nationale und europäische Ereignisse spielen immer wieder eine besondere Rolle für Annie Ernaux. In einem Interview vom 7. Dezember 2018 äußerte sie sich über die landesweiten Aktionen der Gelbwesten in Frankreich, die sich gegen Energiewende, Steuerpolitik und Zentralismus richteten: Die Pariser könnten einfach nicht verstehen, um was es dabei gehe, weil nationale Revolutionen zuvor immer von Paris ausgegangen seien.
Impulse für Debatten über Weiblichkeit und Geschlecht, Familienleben und soziale Vorurteile
Mit nunmehr über achtzig Jahren steht Annie Ernaux zwischen den Generationen. Sie erzählt randscharf und kernprägnant, atmosphärisch dicht, in klaren, einfachen Sätzen. Sie schreibt politisch, aber nicht auf den Zinnen einer Partei, und aus weiblicher Perspektive, ohne sich feministisch vereinnahmen zu lassen. Ihre Bücher verflechten auf einzigartige Weise kollektive mit individueller Erinnerung aus den letzten acht Jahrzehnten und geben hoffnungsvolle Impulse für Debatten über Weiblichkeit und Geschlecht, Familienleben und soziale Vorurteile. Noch ihr Regiedebüt knüpft daran an: Ihr 2021 bei den Filmfestspielen in Cannes präsentierter Film „Les années super 8“ zeigt Homevideos im Super-8-Format aus den 1970er-Jahren. Und ihr Buch „L’Autre Fille“ (2011) erscheint am 16. Oktober in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Das andere Mädchen“ in der Bibliothek Suhrkamp: Es ist ein eindringlicher Brief an ihre 1938 sechsjährig an Diphtherie verstorbene Schwester, die sie nie kennenlernen konnte, eine Erzählung über den paradoxen „Stolz auf mein Überleben als Schuld“. Ein weiteres großartiges Fundstück einer wiedererfundenen Zeit.
Anmerkung der Redaktion
Herr Braun hatte seinen Beitrag bereits abgeliefert, als Antisemitismus-Vorwürfe gegen Annie Ernaux laut wurden. Einen differenzierten Beitrag dazu bietet die Deutsche Welle.
Rezensent im Fokus
Michael Braun
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